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I.1. Die Theorie Sigmund Freuds

In dem Buch "Totem und Tabu" (Freud, Ges. Werke, Bd. IX, und Fischer Bücherei Nr. 147, Frankfurt) hat Freud den religiösen Glauben einer grundsätzlichen Kritik unterzogen und in diesem Zusammenhang auch den christlichen Glauben in seinem Offenbarungscharakter in Frage gestellt.

Obwohl dieses Buch schon im Jahre 1912 erschien und in jüngster Zeit durch die Taschenbuchausgabe große Verbreitung gefunden hat, haben Theologie und Kirche das Buch überhaupt noch nicht zur Kenntnis genommen.

Nun hat allerdings Freud in dieser Schrift eine scheinbar phantastische Theorie entwickelt, so dass es der Theologie bisher leichtfiel, sie einfach zu übersehen. Man täte aber gut daran, sich mit der Religionskritik theologisch auseinanderzusetzen.

Die Psychoanalyse hat eine archäologische Funktion, nur dass sie nicht auf das tote Material von Ausgrabungsfunden und neu entdeckten Literaturzeugnissen angewiesen ist. Der erfolgreiche Versuch, unbewusste psychische Kräfte im Menschen wieder dem Bewusstsein zugänglich zu machen, führte zu der überraschenden Entdeckung eines archaischen Erbgutes, in dem Menschheitserfahrungen bis in die Frühzeit menschlicher Existenz hinein gespeichert worden waren. Psychische Strukturen des Primitivmenschen waren zwar in das Unbewusste abgesunken, aber es ließ sich nachweisen, dass sie sich heute noch sehr lebendig das Verhalten des Menschen beeinflussen können.

Durch therapeutische Analysen erwarb sich Freud in einer langen Erfahrungsreihe eine genaue Kenntnis dieses archaischen Erbes, so dass er es wagen konnte, in Anlehnung an Darwin eine in der Wissenschaft sehr umstrittene Hypothese aufzustellen. Danach soll die primitive Menschheit in einer Horde ihre erste soziale Struktur gefunden haben.

So, wie auch heute noch eine Wildherde von ihrem Leittier beherrscht wird, war die Urhorde der unumschränkten Macht des Hordenvaters unterworfen, der kraft seiner physischen Überlegenheit eifersüchtig über sein sexuelles Vorrecht, alle weiblichen Mitglieder der Horde für sich zu beanspruchen, wachte. Die heranwachsenden Söhne wurden brutal unterjocht, kastriert oder vertrieben. Die Gefühle der geknechteten Söhne dem Vater gegenüber waren verständlicherweise zwiespältiger Art. Der furchtsamen Verehrung seiner väterlichen Überlegenheit, die ihnen in einer feindlichen Umwelt Schutz bot, entsprach ein gefährlicher Hass gegen diese tyrannische Macht.

Dieser Hass trieb nun die Söhne dazu, sich gegen den Vater zu verbünden. Sie erschlugen ihn und suchten sich seiner zugleich gefürchteten und beneideten Kraft zu bemächtigen, indem sie ihn gemeinsam verzehrten.

Das alles klingt recht abenteuerlich, weit davon entfernt, als wissenschaftliche Hypothese ernst genommen zu werden. Aber der Psychoanalytiker stößt immer wieder insbesondere bei seiner männlichen Patienten auf Phantasien oder Träume, in denen ein mächtiger Vater in kannibalischer Weise seiner Macht beraubt wird.

Freud glaubte nun, seine Hypothese auf die Forschungen der Völkerkunde stützen zu können, die sich km 19. Jahrhundert sehr intensiv mit der Entstehung totemistischer Religionen befasste. Im Mittelpunkt dieser Religionen steht ein jährlich wiederkehrendes Opferfest, bei dem der Totem des Stammes geschlachtet und gemeinsam verzehrt wurde. Kein männliches Stammesmitglied durfte sich dieser Mahlzeit entziehen, die unter kultisch festgelegten Zeichen der Furcht und Fluchtbereitschaft eingenommen wurde. Der Totem aber war ein dem Stamm geheiligtes Tier, als Beschützer des Stammes wurde es göttlich verehrt und durfte nur als kultisches Opfer getötet werden.

Auffallendes Merkmal des Totemismus war eine äußerst streng beachtete Exogamie, die den Mann zwang, in einen Stamm hineinzuheiraten, der einen anderen Totem verehrte. Dabei blieb der Mann an seinen Totem gebunden, während die Kinder in der Regel den mütterlichen Totem erbten. Auf diese Weise wurden die heranwachsenden Söhne wiederum zur Heirat außerhalb ihres Stammes gezwungen.

Das Wesen des Totemismus war im 19. Jahrhundert Gegenstand umfangreicher Forschungen, die vornehmlich von englischen und amerikanischen Forschern bei der Urbevölkerung Afrikas, Australiens und Nordamerikas durchgeführt wurden. Zahlreiche, einander widersprechende Theorien, die durch Wilhelm Wundt seinem Werk "Völkerpsychologie"[1] zusammenfassend dargestellt worden sind, haben das Rätsel der Entstehung dieser primitiven Religionsbildung nicht lösen können. Erst die Entdeckung des archaischen Erbgutes in der menschlichen Seele versetzte Freud in die Lage, eine brauchbare Hypothese aufzustellen, die geeignet schien, den Sinn derartiger Religionsbildungen zu enträtseln.

Freud vermutete nun, dass das Totemtier an die Stelle des beseitigten Urvaters getreten war. So war es dem primitiven Menschen möglich, sich in der ständig wiederholten Opferung des Tieres seinen Sieg über den Vater bestätigen zu lassen. Er hatte offenbar das dringende Bedürfnis, sich immer neu die bewunderte Kraft des Vaters einzuverleiben, schon allein, um die anfangs sicherlich starken Angst- und Schuldgefühle dem Vater gegenüber leichter ertragen zu können.

Aber die triumphierenden Söhne gerieten nun unversehens in eine peinliche Lage, die sie dazu zwang, in dem Totem die Autorität des Vaters auf einer göttlichen Ebene wieder aufzurichten. Das in unserer Zeit beschränkte, damals aber durch kein Gesetz gezügelte Inzeststreben entzweite die Brüder im Kampf um die Mutter und ließ sie zu erbitterten Feinden werden. Totschlag und Blutrache haben vermutlich den Fortbestand und die Sicherheit des Stammes ernsthaft gefährdet, so dass man nun die Autorität des Vaters in einem anderen Lichte sah und bereit war, sie in nachträglichem Gehorsam als göttliche Autorität anzuerkennen. So fügte man sich wieder der väterlichen Autorität, indem man auf die Frauen des Stammes verzichtete und diesen Verzicht in einem vom Totem erlassenen strikten Gebot der Exogamie verankerte [2].

Freud glaubte nun, in der christlichen Lehre seine Hypothese eindrucksvoll bestätigt zu sehen. "Im christlichen Mythos", so führt Freud aus, "ist die Erbsünde des Menschen unzweifelhaft eine Versündigung gegen Gottvater. Wenn nun Christus die Menschen von dem Drucke der Erbsünde erlöst, indem er sein eigenes Leben opfert, so zwingt er uns zu dem Schlusse, dass die Sünde eine Mordtat war. Nach dem im menschlichen Fühlen tiefgewurzelten Gesetz des Talion kann ein Mord nur durch die Opferung eines anderen Lebens gesühnt werden; die Selbstaufopferung weist auf eine Blutschuld zurück. (Anm.: Die Selbstmordimpulse unserer Neurotiker erweisen sich regelmäßig als Selbstbestrafungen für Todeswünsche, die gegen andere gerichtet sind.) Und wenn dies Opfer des eigenen Lebens die Versöhnung mit Gottvater herbeiführt, so kann das zu sühnende Verbrechen kein anderes als der Mord am Vater gewesen sein.

So bekennt sich denn in der christlichen Lehre die Menschheit am unverhülltesten zu der schuldvollen Tat der Urzeit, weil sie nun im Opfertod des einen Sohnes die ausgiebigste Sühne für sie gefunden hat. Die Versöhnung mit dem Vater ist um so gründlicher, weil gleichzeitig mit diesem Opfer der volle Verzicht auf das Weib erfolgt, um dessenwillen man sich gegen den Vater empört hatte. Aber nun fordert auch das psychologische Verhängnis der Ambivalenz seine Rechte. Mit der gleichen Tat, welche dem Vater die größtmögliche Sühne bietet, erreicht auch der Sohn das Ziel seiner Wünsche gegen den Vater. Er wird selbst zum Gott neben, eigentlich an Stelle des Vaters. Die Sohnesreligion löst die Vaterreligion ab. Zum Zeichen diesee Ersetzung wird die alte Totemmahlzeit als Kommunion wieder belebt, in welcher nun die Brüderschar vom Fleisch und Blut des Sohnes, nicht mehr des Vaters, genießt, sich durch diesen Genuss heiligt und mit ihm identifiziert. Unser Blick verfolgt durch die Länge der Zeiten die Identität der Totemmahlzeit mit dem Tieropfer, dem theanthropischen Menschenopfer mit der christlichen Eucharistie, erkennt in all diesen Feierlichkeiten die Nachwirkung eines Verbrechens, welches die Menschen so sehr bedrückte, und auf das sie doch so stolz sein mussten. Die christliche Kommunion ist aber im Grunde eine neuerliche Beseitigung des Vaters, eine Wiederholung der zu sühnenden Tat [3].

Diese Hypothese ist verständlicherweise hart kritisiert worden. Man kann es sich nur schwer vorstellen, dass eine solche Mordtat, die in prähistorischer Zeit geschehen sein soll, die Religionsbildung bis in den christlichen Glauben hinein so entscheidend beeinflussen konnte. Auch Freud hat es nicht versäumt, seine Hypothese auf ihre Haltbarkeit abzuklopfen. Es war ihm ja bekannt, dass das Schuldgefühl des Neurotikers nicht auf eine Tat, sondern auf Phantasien zurückgeführt werden musste, die für den neurotisch Erkrankten Tatcharakter besaßen. Die Möglichkeit war also ins Auge zu fasten, dass der Primitive seine Wunschphantasie mit der Wirklichkeit gleichgesetzt hat. Dann hätten allein die Mordphantasien zur Bildung der Totemreligion geführt. Freud hält es mit Recht für unzulässig, die Handlungsfähigkeit des Primitiven mit der eines Neurotikers gleichzusetzen. " Allein der Neurotiker ist vor allem im Handeln gehemmt, bei ihm ist der Gedanke der volle Ersatz für die Tat. Der Primitive ist ungehemmt, der Gedanke setzt sich ohne weiteres in Tat um, die Tat ist ihm sozusagen eher ein Ersatz des Gedankens, und darum meine ich, ohne selbst für die letzte Sicherheit der Entscheidung einzutreten, man darf in dem Falle, den wir diskutieren, wohl annehmen: Im Anfang war die Tat" [4].

Die Frage aber bleibt, ob es vertretbar ist, einer solchen Tat, falls sie wirklich geschehen sein sollte, so weitreichende Folgen zuzuschreiben.

Nun, man wird doch wohl berechtigterweise annehmen können, dass die Ermordung eines Hordenvaters die primitive Gesellschaft weit über Grenzen der rebellischen Horde hinaus in große Aufregung versetzen musste.

In anderen Horden konnte diese Tat den Mut zur Rebellion anheizen und so den Anstoß zu einem unaufhaltsamen Strukturwandel geben. Darüber hinaus wird man wohl kaum die Möglichkeit bestreiten können, dass die primitive Gesellschaft anderer Kontinente in gleicher Weise die Hordenexistenz hinter sich lassen konnte.

Auf jeden Fall aber wird man einen Strukturwandel in der primitives Gesellschaft nicht auf Mordphantasien, sondern allein auf eine Tat zurückführen können, die derartigen Phantasien entsprach.

Da der christliche Glaube ja auch einem Mord am Anfang der Menschheitsgeschichte schicksalhafte Bedeutung für den Verlauf der Geschichte beimisst, kann es eigentlich gar nicht so sehr überraschen, dass die Ursprungsmythen der Bibel der umstrittenen Hypothese Freuds ein erhebliches Gewicht verleihen.

1 W. Wundt, Völkerpsychologie, Bd. 2. Mythus und Religion, 1906.

2 Freud, ges. W. IX s.171ff.

3 a. a. 0., IX, S. 185.

4 a. a. 0., S. 194.


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Last update: 31 Mai 2009 | Impressum—Imprint