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In den Briefen des Paulus fehlt in der Regel jede Reflektion oder bewusste Zensur. Widersprüche in seinen Äußerungen wurden von ihm offenbar nicht bemerkt.
Da er so sein Denken und Fühlen rückhaltlos in seine Briefe einfließen ließ, können mit Hilfe der analytischen Methode verhältnismäßig leicht die dem Schreiber selbst unbewussten Kräfte erfasst werden, die in ihrer Maskierung sein Denken und Handeln beeinflussten.
Die Widersprüche, die sich einer rationalen Erklärung widersetzen, sind die neuralgischen Punkte, denen die Aufmerksamkeit gelten muss. Denn in ihnen können sich möglicherweise die versteckten Triebkräfte äußern, die, sobald sie ans Licht gezogen werden, den scheinbar unlösbaren Widerspruch als sinnvoll erscheinen lassen.
In dem 7. Kapitel des Römerbriefes liegen Äußerungen des Paulus vor, die sich bis auf den heutigen Tag einer eindeutigen Erklärung und theologischen Interpretation widersetzt haben.
Paulus spricht hier von sich als dem "unglückseligen Menschen", der sich selber nicht versteht (Römer 7, 15). Er will das Gute und tut das Böse, hat Freude am Gesetz Gottes, wird aber gefangengenommen von dem Gesetz der Sünde, das in seinen Gliedern wirkt (Römer 7, 23). Die Sünde kann in der "bösen Lust" in ihm zur Auswirkung kommen, und zwar gerade darum, weil das Gesetz sie verbietet (Römer 7, 8).
Verständlicherweise haben diese Worte der theologischen Auslegung von jeher Schwierigkeiten bereitet. Man versuchte, ihnen das Gewicht zu nehmen, indem man sie als Erfahrungen hinstellte, die Paulus bzw. jeder Mensch in seiner vorchristlichen Existenz hatte machen müssen. Der Wortlaut des Textes in seinem weiteren Zusammenhang zwingt aber dazu, sie als Erfahrungen zu werten, die für Paulus Gegenwartsbedeutung haben. Sie sind keine Reminiszenzen aus der Zeit vor seiner Bekehrung. Am Schluss des 7. Kapitels sagt er nämlich:
"Ich, derselbe Mensch, diene mit der Vernunft dem Gesetz Gottes, mit dem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde" (Römer 7, 25).[27]
Das bewusste Handeln ist bei ihm also in der Bindung an Gottes Gebot ethisch bedingt, der Wille zum sittlichen Handeln wird aber durch die Macht der Sünde, die aus dem Leibe heraus wirkt und als eine fremde Macht empfunden wird, gelähmt, zum wenigsten aber stark beeinträchtigt, da sie letzten Endes immer wieder über den sittlichen Willen triumphiert.
Auffallend dabei ist, dass Paulus der Sünde insofern einen personhaften Charakter zuerkennt, als er in ihr einen fremden, ihn als Person bezwingenden Willen zu sehen meint, ihr aber gleichzeitig den personhaften Charakter abspricht, indem er sie als Gesetz in seinen Gliedern bezeichnet (Römer 7, 22). Nach biblischer Anschauung gibt es in der Gestalt des Satans die personifizierte Sünde, der ein Mensch verfällt, wenn er sich zum Ungehorsam gegen Gott verführen lässt. (So z. B. in der Versuchungsgeschichte Jesu: Matthäus 4, 1ff.) Von einer Entscheidung gegen Gott aber hören wir bei Paulus in diesem Zusammenhang nichts, sondern nur von einem "Verkauft sein unter die Sünde" (Römer 7, 14).
Die Evangelien lassen keinen Zweifel daran, dass Verstöße gegen das göttliche Gebot vergeben werden können. Vergebung aber wird dem Schuldigen ohne Einschränkung gewährt, wenn er bereit ist, sie als ein Geschenk anzunehmen. Auf diese Weise wird ein gestörtes Verhältnis zu Gott wiederhergestellt.
Bei Paulus finden wir das Wort "Vergebung" nicht. Das in den synoptischen Evangelien gebräuchliche Wort für" vergeben" = aphienai oder auch apolyein kommt in den paulinischen Briefen überhaupt nicht vor.
Paulus kennt Vergebung nur als einen juridischen Prozess, dem alttestamentliche Vorstellungen zugrunde liegen, denen Paulus noch eigene theologische Gedanken anfügt. Im 3. Kapitel des Römerbriefes behauptet er nämlich, dass Gott die Sünden früherer Zeiten übersehen habe. Jetzt aber sei der Gerechtigkeit Gottes Genüge getan, indem Christus als ein von Gott bestimmtes Sühneopfer die Schuld aller Menschen im Kreuzestod auf sich nahm (Römer 3, 25). Vergebung kann jedoch nur der erlangen, der an Jesus glaubt (Römer 3, 26b), indem er die "Gemeinschaft seiner Leiden" anstrebt, um seinem Tode gleichgestaltet zu werden (Philipper 3, 10-11).
Paulus konnte sich daher bei dieser Glaubensauffassung zum Ziel setzen, durch die Entwertung des leiblichen Lebens die Sünde zu entmachten. Leibliches Leben bedeutet Tod, wer aber durch den Geist die (bösen) Triebe des Leibes ertötet, wird das Leben haben (Römer 8, 13).
Es ist die Frage, ob in diesem Versuch, die Sünde zu entmachten, um der Vergebung teilhaftig zu werden, nicht die Symptome einer seelischen Erkrankung in Erscheinung treten. Ein Mensch weiß sich von Kräften überwältigt, denen er hilflos ausgeliefert ist, ohne die Möglichkeit zu haben, sie zu begreifen.
Fragt man nun nach diesen Kräften, die als "böse Lust" in seinen Gliedern wie eine feindliche Macht gegen ihn auftreten, aber doch teil an seiner Existenz haben, so wird man sie in der Zone des Unbewussten zu suchen haben, aus der heraus sie ihre unheimliche und unverstehbare Wirksamkeit entfalten. Sie müssen nun vom Ich als eine feindliche Macht empfunden werden, da sie ja einmal als unerwünscht und lästig verbannt und in die Bezirke des Unbewussten abgeschoben wurden, in der vergeblichen Hoffnung, sich ihrer auf diese Weise entledigen zu können. Die Vermutung, dass Paulus durch eine missglückte Verdrängung starker Triebkräfte neurotisch erkrankte, zieht die Frage nach der Natur dieser Kräfte nach sich. Das aber scheint eine unlösbare Frage zu sein. Denn Paulus stand nach seiner Aussage den animalischen Trieben, deren Verdrängung immer nur unvollkommen gelingen kann, anscheinend souverän gegenüber.
Durchaus glaubwürdig behauptet er, sowohl in Ärmlichkeit als auch in Überfluss leben zu können (Philipper 4, 12). Dem Geschlechtsleben stand er völlig enthaltsam gegenüber. Er konnte, so scheint es, mühelos auf die Ehe verzichten. Den Korinthern gesteht er den ehelichen Verkehr wegen ihrer "Unenthaltsamkeit" zu, lässt aber keinen Zweifel dar an, dass es besser sei, keine Frau zu berühren (1. Korinther 7, 1 ff'). Er selbst weiß sich von dieser, seiner Ansicht nach menschlichen Schwäche frei, sieht seine Enthaltsamkeit als Gnadengabe an und kann mit einem gewissen Stolz sagen: "Am liebsten möchte ich, dass alle Menschen wären, wie ich bin" (1. Korinther 7, 7).
Dieser Ablehnung und Abwertung der geschlechtlichen Seite des kreatürlichen Lebens wird man seine Aufmerksamkeit zuwenden müssen. Der Geschlechtstrieb macht nämlich, genauso wie die anderen Elementartriebe, bei jedem Menschen seine Rechte geltend, indem er auf Befriedigung drängt. Bei einer normalen Sexualkonstitution ist eine Sublimierung in gewissen Grenzen allerdings möglich, indem das geschlechtliche Streben vom ursprünglichen Objekt abgezogen und der geistigen Energie zur Bewältigung ihr entsprechender Aufgaben zugeführt wird. Es kann sich dabei aber immer nur um eine Teilsublimierung, niemals um eine Aufzehrung des Triebes handeln. Nicht ohne Grund wurden die Apostel auf ihren Missionsreisen von ihren Ehefrauen begleitet (1. Korinther 9, 5).
Von der geschlechtlichen Enthaltsamkeit des Paulus können wir mit einiger Sicherheit auf eine missglückte Verdrängung schließen, die zu neurotischer Erkrankung führen musste. Seine Ausführungen im 7. Kapitel des Römerbriefes weisen deutlich darauf hin.
Warum aber sah er sich gezwungen, einen derart dem natürlichen Lebensablauf entgegengesetzten Kampf zu führen?
Diese Frage ist schwer zu beantworten, da wir von Paulus selbst keinen direkten Hinweis zu erwarten haben. Verdrängte Kräfte wurden ja vom Ich negiert und in die Bezirke des Unbewussten abgeschoben. Die Existenzberechtigung wurde ihnen radikal von der sittlichen Instanz abgesprochen, so dass von seiten der verdrängenden Kräfte des bewussten Ichs keine Auseinandersetzung mehr mit ihnen erfolgen konnte. Eine Aufhellung dieser Frage wird nur auf indirektem Wege möglich sein. Gewicht haben bei diesem Verfahren die Äußerungen des Paulus, in denen er in bezug auf das Sexualleben komplexempfindlich reagiert.
Was Komplexempfindlichkeit bedeutet und inwiefern aus ihr Schlüsse gezogen werden können, soll ein Beispiel verdeutlichen:
Ein Trinker, dem der Alkohol eine Existenzbedrohung geworden ist, wird den Versuch machen, sich des Alkohols zu entwöhnen. Auch nach der Entwöhnung wird der Gedanke an Alkohol in ihm in der Regel zwiespältige Empfindungen auslösen. Jedesmal, wenn sich ihm eine Gelegenheit zum Trinken anbietet, wird einerseits die Begehrlichkeit geweckt, andererseits werden auch die Unlustgefühle nicht ausbleiben. Am ehesten wird er einer Versuchung zum Trinken widerstehen können, wenn er im Alkohol schlechthin das Böse und die Verführung zu allem Bösen zu erkennen meint. Ja, es kann sogar sein, dass er vor seinen Mitmenschen zu einem leidenschaftlichen Verfechter der Abstinenz wird, um sich so auch nach außen hin in seiner Enthaltsamkeit festzulegen. Der Gedanke an Alkohol ist ihm zu einem Reizgedanken geworden, auf den er nur noch emotional reagieren kann. Zu einer nüchternen und der Bedeutung dieses Genussmittels angemessenen Beurteilung wird er nicht mehr fähig sein.
Nun hat sich Paulus über gewisse sexuelle Verhaltensweisen ausgesprochen emotional geäußert. Während er durchaus nüchtern über Ehefragen sprechen kann (1. Korinther 7, 1 f.), gerät er bei der Erwähnung des widernatürlichen Geschlechtsverkehrs in heftige Erregung, in der er im Blick auf dieses sittenwidrige Verhalten merkwürdige Schlussfolgerungen zieht.
Im 1. Kapitel des Römerbriefes schildert er die Folgen, unter denen die Heiden seiner Ansicht nach zu leiden haben, weil sie der Gottlosigkeit verfallen sind. Gott bestraft ihre Untreue dadurch, dass er sie der Homosexualität anheimgibt:
"Darum hat sie Gott auch in schandbare Leidenschaften fallen lassen. Denn ihre Weiber haben den natürlichen Geschlechtsverkehr mit dem widernatürlichen vertauscht; und ebenso haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit dem Weibe aufgegeben und sind in wilder Gier zueinander entbrannt, indem sie, Männer mit Männern, die Schamlosigkeit verüben, aber auch die gebührende Strafe am eigenen Leibe empfangen (Römer 1, 26ff.)."
Nun war es für Paulus selbstverständlich unmöglich, die Entwicklung zur Homosexualität, die niemals auf eine sittliche Verfehlung zurückgeführt werden kann, in ihrer eigentlichen Verursachung zu durchschauen. Möglicherweise hat er während seiner Missionsreisen sehr unerfreuliche und abstoßende Formen homosexueller Betätigung kennengelernt. Die Schlussfolgerung aber, dass nämlich eine Abkehr von Gott geschlechtliche Verkehrung nach sich zöge, musste auch damals schon der erfahrbaren Wirklichkeit widersprechen. Ebenso unhaltbar ist der Versuch, den zur Homosexualität neigenden Menschen in einem Lasterkatalog alle nur denkbaren Charaktereigenschaften beizulegen:
"Sie sind erfüllt mit jeglicher Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habgier und Bosheit, voll Neid, Mordlust, Streitsucht, Arglist und Tücke; sie sind Ohrenbläser, Verleumder, Gottesfeinde, gewalttätige und hoffärtige Menschen, Prahler, erfinderisch im Bösen, ungehorsam gegen die Eltern, unverständig, treulos, ohne Liebe und Erbarmen" (Römer 1, 29).
Nun war Paulus zwar im jüdischen Gesetz erzogen und sah daher in homosexueller Betätigung einen schweren Verstoß gegen Gottes Gebot (3. Mose 18, 22). Aber die Gleichung: Gottlosigkeit = Homosexualität, Homosexualität = abgrundtiefe Verworfenheit hätte Paulus bei seiner Kenntnis heidnischer Lebensformen in nüchterner Überlegung nicht aufstellen können.
Offenbar übersieht er auch, dass im Alten Testament der Strafmöglichkeit Gottes überhaupt keine Grenzen gesetzt werden. So verhängt nach biblischem Bericht Jahwe durch die Austreibung aus dem Paradies, durch Dürre und Hungersnot, Krankheit oder Krieg Strafen über den ungehorsamen Menschen.
In der Vorstellung des Paulus aber bedient sich Gott vornehmlich der Strafe geschlechtlicher Verkehrung. Der Inbegriff der Sündhaftigkeit ist mit dieser Vorstellung fest verlötet. Immer wieder stößt man auf diese eigenartige Koppelung:
"Lasst uns ehrbar wandeln, wie es am Tage geziemt: nicht in Schwelgerei und Trinkgelagen, nicht in Unzucht und Ausschweifungen, nicht in Streit und Eifersucht" (Römer 13, 13).
"Irret euch nicht, weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Lüstlinge und Knabenschänder ... werden das Reich Gottes erben" (1. Korinther 6, 9).
"Ich fürchte, ... dass ich um viele Leid tragen muss, die früher gesündigt und wegen der Unzucht und üppigen Lebensweise ... unbußfertig geblieben sind" (2. Korinther 12, 21).
"Offenkundig sind die Werke des Fleisches, nämlich Unzucht, Unsittlichkeit, Ausschweifung, Götzendienst ... " (Galater 5, 19).
"Denn das ist der Wille Gottes, eure Heiligung, dass ihr die Unzucht meidet ... " (1. Thessalonicher 4, 3).
In einer nahezu zwangsmäßig auf den geschlechtlichen Sektor konzentrierten Sündhaftigkeit offenbart sich in der Vorstellung des Paulus das Gesetz der Sünde in böser Lust, die eine Keimzelle für jede denkbare Ungerechtigkeit ist und von Gott gebührend bestraft wird.
Hier werden affektbetonte Gedanken geäußert, in denen deutlich wird, dass das Sündenbewusstsein des Paulus im Wesentlichen durch eine homosexuelle Komponente bedingt wurde.
27 Der häufig erprobte Versuch, Römer 7, 14-25 als Allgemeinerfahrung des Menschen in seiner vorchristlichen Existenz unter dem Gesetz hinzustellen, die für den Christen als überwunden gelten kann, scheitert nicht nur am Vers 25 b. Hier werden persönliche Gegenwartserfahrungen vorgetragen. Wie könnte man es sonst erklären, dass Paulus in den vorhergehenden Versen 7-13 die Vergangenheitsform gewählt hat? Warum auf einmal der Wechsel der Zeitform? Bultmann, der sich einem solchen Interpretationsversuch angeschlossen hat, entzieht sich der Verlegenheit, indem er den seiner Auslegung zuwiderlaufenden Vers 25b einfach ausklammert, offensichtlich nach dem Motto, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Immerhin aber hat er sich nicht zu der auch häufig vertretenen Auffassung verleiten lassen, der Text in Vers 25b sei verdorben und habe deshalb kein Gewicht (R. Bultmann, Theologie des NT, Tübingen 1954, 5.243).
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