oturn home > Gespaltener Christlicher Glaube > III. Paulus – Versuch einer Charakterdeutung > 6. Die Bekehrung

Weiter zu Teil III.7 Der religiöse Masochismus

Zurück zu Teil III.5 Der Kampf gegen die Krankheit

Zum Index von Teil III. Paulus – Versuch einer Charakterdeutung

Zum Hauptindex


III.6. Die Bekehrung

Da uns über die Bekehrung des Paulus kein zuverlässiger Bericht vorliegt, sind wir auf den Versuch angewiesen, diese entscheidende Phase seiner inneren Ent­wicklung unter Bezugnahme auf seine brieflichen Äußerungen zu rekonstruie­ren. Dies Verfahren wird sich vornehmlich darauf beschränken, die Wandlung seines Verhaltens nach der Bekehrung aufzuzeigen, um daraus Schlüsse ziehen zu können.

An der Struktur seines Wesens scheint sich nichts geändert zu haben. Diesel­ben Antriebskräfte lassen sich auch jetzt nachweisen, allerdings in entgegen­gesetzter Verknüpfung.

Die Ziele, auf die sie gerichtet sind, haben sich nunmehr in das Gegenteil ver­kehrt. Paulus hat sozusagen eine Wendung um 180 Grad gemacht. Aus dem Christenverfolger wird ein Verkündiger des christlichen Glaubens. Seine Ge­setzestreue schlägt in eine radikale Ablehnung des Gesetzes um. Die Jagd nach der Gerechtigkeit wird abgelöst durch eine Jagd nach der Liebe (1. Korinther 14, 1). Die Ablehnung der Christen wandelt sich in eine Ablehnung seiner leiblichen Existenz:

"Das Fleisch muss gekreuzigt werden samt den Leidenschaften und Lüsten" (Galater 5, 24).

"Der von der Sünde beherrschte Leib muss außer Wirksamkeit gesetzt werden" (Römer 6, 6).

"Wenn ihr durch den Geist die (bösen) Triebe des Leibes ertötet, so werdet ihr das Leben haben" (Römer 8, 13b).

"...ich zerschlage meinen Leib und mache ihn mir untertan, um nicht, nachdem ich als Herold andere zum Kampf aufgerufen habe, mich selbst des Preises un­würdig zu erweisen" (1. Korinther 9, 27).

Wenn nun im folgenden versucht wird, die Motive aufzuhellen, die Paulus zu seiner Kehrtwendung veranlassten, so wird man von vornherein darauf verzich­ten müssen, den Ablauf der seelischen Vorgänge im Detail aufzuzeigen. Die Unterströmungen eines Flusses sichtbar zu machen, die durch die unbekannte Bodengestaltung des Flußbettes mitbedingt werden, wäre eine ähnlich unmögliche Aufgabe.

Um die innere Wandlung, die sich in Paulus vollzog, überhaupt verstehen zu können, bedarf es einer vertieften Einsicht in die Funktion, die das Gesetz für das Verhalten des Paulus übernehmen konnte.

Durch das Gesetz konnte er sich nicht nur in der Position der Stärke bestätigt fühlen. Eine Verhaftung und Auspeitschung eines Gesetzesübertreters war mehr als nur eine Verwarnung des zur Aufsässigkeit neigenden Trieblebens. Die strenge Handhabung des Gesetzes ermöglichte darüber hinaus, dass ohne Ein­spruch von seiten der sittlichen Instanz Triebkräfte abströmen konnten, für die sich sonst kein Ventil bot. Auch nach der Bekehrung des Paulus lassen sich bei ihm aggressiv-sadistische Strebungen feststellen (siehe 1. Korinther 5, 5; Gala­ter 1, 8 ff.; Galater 5, 12). Diese Aggressionsbereitschaft, die Energiezufuhr von der verbotenen "bösen Lust" erhielt, konnte nun in einer legitimen Bestrafung der Gesetzesverächter ihre Befriedigung finden. So war es möglich, zum wenig­sten einen Teil der unterdrückten Sexualkräfte einer sittlich gerechtfertigten Verwendung zuzuführen.

Nun hat Paulus bei der Verfolgung der Christen sicherlich überraschende Er­fahrungen gemacht. Viele Opfer mögen sich seinen Erwartungen entsprechend verhalten haben, indem sie sich einschüchtern ließen und damit auch gegen ihren Willen die Autorität des Gesetzes anerkannten. Es wird aber auch zu Begegnungen mit Christen gekommen sein, an denen sich Strafmaßnahmen als unwirksam erwiesen. Gerade das Gegenteil der beabsich­tigten Wirkung wurde erzielt. Die Opfer verhielten sich nämlich unter dem Druck der Strafe so, wie sich Paulus selber später als Bekehrter verhalten sollte. Sie konnten "freudigen Mutes in aller Schwachheit, in Misshandlungen, in Not­lagen und Bedrängnissen" sein (2. Korinther 12, 10).

In seinen Gegnern begegnet ihm also eine Kraft, die ihn in Verwirrung setzen musste. Bisher konnte er der festen Überzeugung sein, im Namen Gottes die Verächter des Gesetzes zu bestrafen. Das Gesetz war die Waffe Gottes, der keiner widerstehen konnte. Er selber aber befand sich in der Position der Stärke, wenn er diese göttliche Waffe handhabte.

Und nun muss er an diesen Menschen erleben, dass es noch eine stärkere Macht gibt als das Gesetz. Er kann zwar Strafen in der Vollmacht des Gesetzes ver­hängen, aber der zu erwartende Erfolg bleibt aus. Die geprügelten Christen widerstehen dem Leidensdruck in einer ihm bisher unbekannten Leidensbereit­schaft. Es ist, wie wenn er einen Brand löschen möchte und nun sehen muss, dass er nicht Wasser, sondern Öl in die Flammen gegossen hat. Das Gesetz erweist sich bei diesen Menschen also nicht als die unwiderstehliche Macht, hinter der er bisher die Autorität Gottes zu erkennen glaubte. Die Gesetzesverächter da­gegen nehmen die Macht Gottes mit einer Gewissheit für sich in Anspruch, die sie die Strafe freudig ertragen lässt. Die Gesetzesstrafen verlieren an ihnen ihre Wirkung und werden zur Brücke einer Verbindung mit ihrem Gott. Nun könnte man fragen, warum Paulus von dieser Glaubenshaltung überhaupt nachhaltig beeindruckt werden konnte. Hätte die Treue zum überlieferten Ge­setz seiner Väter allein sein Handeln bestimmt, dann würde er vermutlich die Haltung der Christen nicht als Kraft, sondern als eine Art Wahnsinn empfun­den haben. Denn das Gesetz bleibt ja in Kraft, die Glaubenshingabe der Chri­sten kann es nicht verhindern, dass der Gesetzesbrecher aus christlicher Über­zeugung zur Rechenschaft gezogen wird.

Da aber der Eifer des Paulus im Kampf um das Gesetz von unbewussten Kräften getragen und gesteuert wurde, fand die Haltung der Christen in ihm selbst eine so starke Resonanz, und zwar bei den Triebkräften, die kraft des Gesetzes bis­her unterdrückt worden waren. Der Widerspruch gegen das Gesetz findet in seinen Tiefenschichten einen Bundesgenossen, der sich mit der unbewussten triebhaften Kraft immer erneut gegen rationale Überlegung durchzusetzen ver­sucht. Hätte das Gesetz bei den Christen Gefühle der Angst und Resignation hervorrufen können, wäre das von Paulus als ein Erfolg des Gesetzes im Unbe­wussten registriert worden. Die überraschende Wirkung der Strafe aber, die aus Gedemütigten Sieger machte, musste für die gesetzesfeindlichen Regungen in ihm selber einen Kraftzuwachs bedeuten. Das Gesetz büßte auf diese Weise an Vollmacht ein, die Christen im Namen des Gesetzes zu unterdrücken.

Paulus ist gleichsam in der Lage eines Feldherrn, dessen Truppen zum Gegner überlaufen. In dieser Lage gibt es für ihn nur eine Möglichkeit, der Revolte zu begegnen, nämlich sie als Revolution anzuerkennen und sich auch bewusst auf die Seite des bisherigen Gegners zu stellen.

Diese Neuorientierung musste sich allerdings in ihrer eigentlichen Begründung dem Bewusstsein entziehen, da die Entscheidung auf der Ebene des Unbewussten fiel und daher auch von Paulus als eine Offenbarung empfunden wurde. Der bewussten sittlichen Instanz wird nur zugemutet, auf das Gesetz als Machtinstru­ment Gottes zu verzichten. Dazu aber konnte sich diese Instanz genauso leicht bereitfinden, wie ein Wohnungsinhaber bereit sein wird, seine Wohnung zu räumen, wenn man ihm eine bessere Wohnung nachgewiesen hat.

Die Hinwendung zum christlichen Glauben wurde von Paulus mit Recht als eine Erlösung aus einer auf die Dauer unhaltbaren Lage empfunden. Das ver­hasste Gesetz konnte fallen, ohne dass die Bedingung angetastet wäre, auf der Seite Gottes zu stehen. Triebkräfte, die bisher unter dem Zwang des Gesetzes nur in einem religiös verbrämten Sadismus ihre Befriedigung fanden, bedürfen zu ihrer Rechtfertigung nicht mehr des Gesetzes, sie können vom sittlichen Ich auf­genommen und legitimiert werden. Im Dienste des Leidens und Sterbens mit Christus finden sie jetzt eine sinnvolle Funktion von großer Bedeutung (Phi­lipper 3, 10). Im Erleiden, nicht mehr im Leidzufügen wird die Befriedigung ge­sucht. Ein religiös verkappter Sadismus hat sich in einen Masochismus verwan­delt, der als eine leidende Frömmigkeit in Erscheinung tritt.

Es handelt sich hier um einen psychischen Vorgang, der rational schwer ver­ständlich zu machen ist, da er sich nicht auf rationaler Ebene, sondern in den Schichten des Unbewussten vollzogen hat. Eine psychoanalytische These, die im Masochismus eine weiter entwickelte Form des Sadismus zu erkennen glaubt, scheint in der Geschichte des Paulus ihre Bestätigung zu finden [29].

Rational vereinfacht lässt sich folgendes feststellen:

Religiös verkappter Sadismus hat in der Leidensbereitschaft der ersten Christen seinen Meister gefunden. Der Leidende ist stärker als der Peiniger, der dem Opfer wider Willen die Bestätigung verschafft hat, auf der Seite Gottes zu ste­hen. Mit der Anerkennung der Stärke des Leidenden enthüllt sich die Position des Sadisten als die schwächere. Der Leidende steht offenbar im Bereich der Kraft und Gnade Gottes. Im folgenden sind noch Faktoren aufzuzeigen, die die Hinwendung des Paulus zu einer masochistischen Einstellung begünstigten.

29 Th. Reik, Aus Leiden Freuden, Imago London 1940, S. 189 ff.


Weiter zu Teil III.7 Der religiöse Masochismus

Zurück zu Teil III.5 Der Kampf gegen die Krankheit

Zum Index von Teil III. Paulus – Versuch einer Charakterdeutung

Zum Hauptindex

Last update: 31 Mai 2009 | Impressum—Imprint