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Die Frage, warum Luther sich so plötzlich für ein mönchisches Leben entschieden hat, blieb für die Lutherforschung bisher eine Frage am Rande. Das schreckliche, von vielen Legenden umrankte Erlebnis im Gewitter bei Stotternheim schien diesen Entschluss ausgelöst zu haben. Seine Gegner glaubten, bei dieser scheinbar unmotivierten Handlungsweise auf pathologische Züge in seinem Charakterbild schließen zu können, seine Verehrer feierten ihn als einen zweiten Paulus. Luther selbst hat sich bei gelegentlicher Erwähnung seines Erlebnisses bei Stotternheim immer nur auf merkwürdig dunkle Andeutungen beschränkt.
Während die Theologie sich darauf beschränkte, den Eintritt ins Kloster je nach theologischem Standort als Berufung oder als Folge seelischer Erkrankung, bzw. dämonischer Besessenheit zu werten, kann dieser Entschluss Luthers auch aus rationaler Sicht eine verständliche Erklärung finden.
Umfassend und einleuchtend hat Erikson den Entschluss, Mönch zu werden, aus dem Identitätskonflikt des jungen Luther hergeleitet. Dieser Darstellung kann nicht widersprochen werden, sie bedarf aber einer Ergänzung. In der folgenden Untersuchung liegt der Akzent auf dem Glaubenskonflikt, in den Luther als römisch-katholischer Christ geriet. Der Kampf gegen die Glaubensform seiner Kirche wurde zwar durch sein Bemühen, sich selbst zu finden, ausgelöst. Im Reformationsgeschehen aber ging es nicht um die Identitätsfindung eines Mannes, sondern um einen Glauben, der auch schon damals erstarrte Glaubensformen zerbrach, und sich so als geschichtsbildende Kraft auswies. Weil Erikson psychologisch nicht erfassbare Glaubenskräfte übersah, ist ihm wohl auch der Fehler unterlaufen, die folgenschwere Begegnung mit dem Vater Hans Luther nach der Priesterweihe auf Grund sekundärer Quellen darzustellen [52].
Es hat eine kurze Periode im Leben Martin Luthers gegeben, in der er die eigentlichen Gründe, die ihn Mönch werden ließen, in aller Öffentlichkeit darlegt. Diese Äußerungen gehen mit Sicherheit auf ihn persönlich zurück. Wahrscheinlich war er sich nur zu einer Zeit seines Lebens, nämlich während seines Aufenthalts auf der Wartburg, darüber im klaren, warum er eigentlich ins Kloster gegangen war.
Der Aufenthalt auf der Wartburg muss von Luther als eine Zeit der Entspannung empfunden worden sein. Nach einem gefährlichen und zermürbenden Kampf, der sich über Jahre erstreckt hatte, war er nun in die Stille der Thüringer Bergwelt versetzt worden. Wenn er auch gelegentlich in Briefen an Spalatin über Anfechtungen klagt, so konnte er doch zu dieser Zeit im Bewusstsein eines gewaltigen Sieges leben, den er als ein vor wenigen Jahren noch unbekannter Mönch und Professor an einer Winkeluniversität errungen hatte. Da er noch nicht ahnte, welch schwere Kämpfe und Enttäuschungen ihn in den kommenden Jahren bis an sein Lebensende erwarteten, durfte er zu dieser Zeit in einem ungetrübten Gefühl der Befreiung leben. Schon im Herbst des Jahres 1521 verfasst er seine Schrift "Über die Mönchsgelübde", die er nun für null und nichtig erklärt. Er zieht damit einen Strich unter seine Vergangenheit, es kann ein ganz neuer Anfang gesetzt werden, bisher unlösbare Bindungen haben für ihn auf einmal keine Bedeutung mehr.
Als diese Schrift dann veröffentlicht wurde, sollte sie für viele Mönche und Nonnen das Signal werden, die Klöster zu verlassen. Bei dem Gewicht seiner Stimme, insbesondere auch innerhalb des eigenen Ordens, musste Luther damit rechnen, dass seine Stellungnahme Gewissenskonflikte bei den ehemaligen Standesgenossen auslösen könnte. Wenn er nun dieser Schrift ein Vorwort vorausschickte, dann lag es nahe, sich in ihm in einer Erklärung oder Rechtfertigung an die unmittelbar Betroffenen zu wenden.
Mit einigem Erstaunen aber entnimmt man dem Vorwort, dass er auf eine Rechtfertigung nur einem einzigen Menschen gegenüber Wert gelegt hat. Er widmete die Schrift seinem Vater, und zwar in einem Brief, den er als offenen Brief, in lateinischer Sprache geschrieben, seiner Schrift als Vorwort voranstellt.
Der Inhalt dieses Briefes lässt keinen Zweifel daran, dass der Entschluss, Mönch zu werden, in einem engen Zusammenhang mit seinem Verhältnis zum Vater gesehen werden muss. Man glaubte bisher annehmen zu können, dass eine Entfremdung zwischen Vater und Sohn erst eintrat, nachdem der Sohn die Pläne des Vaters durchkreuzt hatte, die auf eine weltliche Karriere Martins abgezielt waren.
Der Brief, datiert vom 21. November 1521, zwingt zu einer Korrektur dieser Annahme. Noch einmal wird die spannungsgeladene Atmosphäre des Jahres 1505 in der Erinnerung beschworen, wenn Luther schreibt: "Hättest du gewusst, dass ich auf diese Zeit noch in deiner Hand war, hättest du aus väterlicher Gewalt mich nicht aus der Kappen gerissen? Denn wahrlich, wo ich's gewusst, hätte ich ohne dein Willen und Wissen solches nicht angefangen, und ob ich tausend Tode hätte leiden sollen." [53]
Luther hat sich also vor seiner Entscheidung nüchtern die Reaktion des Vaters und ihre möglichen Folgen überlegt. Er wusste, dass er den Vater auf das empfindlichste treffen würde, wenn er sich seinem Willen und seinen Plänen entzog. Zugleich konnte er in der beruhigenden Gewissheit, dass der Zorn des Vaters ihn nicht mehr treffen könne, einen eigenen Weg gehen. Die Möglichkeit aber, sein Verhalten, durch das er rücksichtslos die väterliche Machtlosigkeit demonstriert hatte, mit dem Zwang einer höheren Berufung zu entschuldigen, hat sich Luther im weiteren Verlauf des Briefes selber verbaut.
Noch einmal erwähnt er das "gezwungene und gedrungene Gelübde", das ihm bisher zur Rechtfertigung seines Weges gedient hatte, bekennt aber dann ein wenig später, dass dieses Gelübde "nicht einer Schlehen wert" gewesen sei, "denn ich zog mich damit aus Gewalt und Willen der Eltern, die mir von Gott geboten waren; und das mehr, es war ganz ungöttlich. Dass es aber nicht aus Gott wäre, zeigt nicht allein das an, dass es wider deine Gewalt war, sondern dass es nicht von Herzen und williglich getan war." [54]
Dieses Eingeständnis wirft ein neues Licht auf die höllischen Anfechtungen, denen Luther als Mönch immer wieder ausgesetzt war. Fünfzehn Jahre lang musste er krampfhaft an der Einbildung festhalten, von Gott berufen zu sein. Seiner charakterlichen Veranlagung nach neigte er zu kompromissloser Ehrlichkeit, so dass das tiefere Wissen um die eigentlichen Motive seines Handeins stets an der Schwelle des Bewusstseins lagen und so das Gebäude seines heiligmäßigen Lebens mit dem Einsturz bedrohten. Der Zwang zur Selbsttäuschung war der Preis, den er für den Sieg über den Willen des Vaters hatte bezahlen müssen. Sein ganzes Bestreben musste nun in diesen Jahren darauf gerichtet sein, die versteckte Heuchelei durch den Ernst eines frommen Lebens gleichsam auszuhöhlen und unwirklich zu machen. Einmal musste ja der Zeitpunkt kommen, wo die Lüge unter dem Gewicht einer zuchtvollen, büßenden und tätigen Frömmigkeit erstickt und begraben wurde.
Im Anfang seiner geistlichen Laufbahn schien es Luther in seinem frommen Eifer tatsächlich zu gelingen, eine für das ganze Leben haltbare Fassade über schwankendem Grund aufzubauen. Die Achtung seiner Brüder und die Wertschätzung seiner Vorgesetzten, die ihn schon sehr bald für die Priesterlaufbahn und Lehrtätigkeit bestimmten, hätten sein Selbstbewusstsein derart verfestigen können, dass er zeit seines Lebens ein zuverlässiger Lehrer katholischer Lehre an der Winkeluniversität Wittenberg hätte bleiben können. Es sollte aber anders kommen.
Die Katastrophe, die seiner Hoffnung auf ein geistliches Leben in Frieden mit Gott und sich selbst ein Ende machte, geschah gerade zu der Zeit, als er sich anschickte, der Fassade seines Lebens durch die Priesterwürde ein unantastbares Ansehen zu geben. Ausgelöst wurde sie durch den Vater, der als einziger Mensch die fromme Fassade seines Sohnes durchschauen und durchsichtig machen konnte. Denn er kannte, wie kein anderer, den Charakter seines Sohnes. Es war Hans Luther sicher nicht verborgen geblieben, dass Martin auf Rebellion sann und seiner Gehorsamspflicht nur unwillig nachkam. Von Spannungen zwischen Vater und Sohn während der Studienzeit wurde zwar nichts überliefert. Aber wenn der Sohn in seinem Brief von 1521 den Vater daran erinnert, dass er ihn kurz vor dem Bruch durch eine reiche Heirat habe "fesseln" wollen [55], dann kann man sich leicht vorstellen, wie Martin in seiner ambivalenten Einstellung zum Vater auf derlei Pläne reagieren musste. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass Martin nun auf dem Rückwege nach Erfurt, belastet durch die Verheiratungspläne des Vaters, durch das schreckliche Gesicht im Gewitter zum Mönchsgelübde gezwungen wurde. Man darf wohl annehmen, dass der Vater hinter diesem Gesicht den Ungehorsam des Sohnes gewittert hat, der offenbar meinte, sich dem Sohnesgehorsam entziehen zu können, indem er einem Höheren gehorsam wurde.
Es ist schon verständlich, dass Hans Luther darauf gewartet hat, den ungehorsamen Sohn zu demütigen und zu bestrafen. Diese Gelegenheit ergab sich tückischerweise an dem Tag, der eigentlich ein Ehrentag für Martin Luther hatte werden sollen.
52 Erikson hat hier die zuverlässige Quelle, die in Luthers Brief an den Vater vom 21. November 1521 vorliegt, mit Sekundärquellen der Tischredenaufzeichnungen vermischt. So entsteht ein schiefes Bild. Nach der Sekundärquelle versucht er, den Vater zu besänftigen, indem er das "fein geruhsam und gotlich" leben im Mönchstum schildert. Im Brief vom 21. November 1521 spricht er nur von dem Schrecken bei Stotternheim, der ihn ins Kloster trieb, a.a.0., S. 158.
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