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Wir haben uns zunächst noch einmal die Hypothese Freuds zu vergegenwärtigen, nach der Jesus in Solidarität mit seinem Volke den Vatermord in der Urzeit der Menschheit durch das Opfer seines Lebens sühnte. Ein Mord kann nur durch den Tod des Schuldigen gesühnt werden. Und so befreite er sein Volk von der Erbschuld, erreichte aber zugleich das Ziel, dass er nun neben dem Vater, eigentlich aber anstelle des Vaters zum Gott wird. Die Sohnesreligion löst die Vaterreligion ab. (Siehe Seite 11.)
In dieser Hypothese steckt nun ein schwerwiegender Fehler. Freud setzt nämlich voraus, dass Jesus sich in einer Schuldgemeinschaft mit seinem Volk gewusst hat und daher auch den Glauben seines Volkes teilte.
Das aber ist nicht der Fall. Er zog ja gerade den Hass seines Volkes auf sich, weil er es wagte, den Glauben seiner Väter in Frage zu stellen. In einer unerhörten Weise wagte er das mosaische Gesetz anzutasten, indem er dem Gesetz seine eigene Lehre entgegensetzte mit den Worten: "lhr habt gehört, dass den Alten geboten worden ist..., ich aber sage euch..." So setzte er das Ehescheidungs- und Vergeltungsgesetz einfach außer Kraft (Matthäus 5, 31f und Matthäus 5, 38f), entheiligte nach jüdischer Auffassung wiederholt den Sabbat und maßte sich damit eine Autorität an, die allein dem Mose zustand.
Jesus wusste, dass ihm sein Verhalten die unversöhnliche Gegnerschaft der Juden eintragen musste. Sie mussten ihn töten, um sich selbst vor einer tödlichen Gefahr schützen zu können. Wenn sie nämlich einen derartigen Frevel am mosaischen Gesetz zulassen würden, dann wäre der Zorn Jahwes ihnen sicher. Sie hatten es ja im Laufe ihrer Geschichte erfahren, mit welch einer Strenge Jahwe den Abfall seines Volkes zu ahnden wusste. Darum sollte auch ein engmaschiges Gesetzeswerk das Volk auf dem rechten Weg halten, um nicht noch einmal dem Zorn Jahwes ausgesetzt zu sein.
Aber noch in ganz anderer Weise war dieser Jesus für sie eine Bedrohung. Ihre Treue dem Gesetz gegenüber beruhte nicht letztlich auf einem Vertrauen zu ihrem Gott, sondern diente zugleich auch einer Abwehr Jahwes, dem sie sich zufolge ihres Schuldgefühls auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert wussten. Sie mussten daher das Gesetz auch immer als eine drückende Einschränkung ihrer Freiheit empfinden. Die Souveränität nun, mit der dieser Jesus sich einfach über das Gesetz hinwegzusetzen schien, sprach in ihnen auch die ständige Bereitschaft zur Rebellion gegen den tyrannischen Jahwe an. Jesus wurde ihnen gleichsam zu einer inneren Gefahr, der sie allein dadurch begegnen konnten, dass sie den Rebellen gegen das Gesetz einer gerechten Strafe zuführten, die nur in einer Hinrichtung bestehen konnte. Nur so konnten sie das ihrem Gott gegenüber ständig schlechte Gewissen wirksam entlasten.
Jesus hat offensichtlich gewusst, dass die Juden sich von ihrem Glauben her gezwungen sahen, ihn zu töten. Er stand vor einer Entscheidung, die ihm schwer werden musste. Wollte er sein Leben retten, musste er sich den jüdischen Religionsgesetzen unterwerfen und Jahwe als den unumschränkten Herrn anerkennen. Das wäre ihm vielleicht unauffällig möglich gewesen, wenn er sich mit einer Flucht nach Galilei aus der 'Öffentlichkeit zurückgezogen hätte. Wenn er aber an der Wahrheit über das Wesen Gottes, so wie er es glaubte erkannt zu haben, festhielt, dann musste er sterben. In diesem Fall würde er tatsächlich die Erbschuld seines Volkes auf sich nehmen.
Seinen Entschluss, in den Tod zu gehen, brachte er dann bei dem letzten Mahl mit seiner Jüngern zum Ausdruck, indem er ihnen Brot mit den Worten reichte: "Das ist mein Leib." Ob diesem letzten Mahl die Passahfeier vorausging, ist aus Gründen, die in diesem Zusammenhang nicht erörtert werden können, recht zweifelhaft. Die Tötung des Urvaters, die als ein nicht zu sühnendes Verbrechen das jüdische Gewissen in einer ständigen Schuldhaft hielt, zwingt zur Hinrichtung Jesu, der das Todesurteil gegen sich als notwendig bejaht. Jesus gibt sein Leben freiwillig hin und steht so für die Wahrheit seines Wortes mit dem Leben ein. Erst durch diesen Einsatz gewinnt sein Wort eine überzeugende Glaubwürdigkeit.
Jetzt kann dem Menschen das Wesen Gottes aufgeschlossen werden, das mit dem Jahwes nichts mehr gemein hat. Jahwe verlor durch eine Untat sein Leben, es wurde ihm geraubt; das Schuldgefühl, das sich in jeder Generation, insbesondere in Katastrophenzeiten, wieder belebte, gab ihm die Macht, der man gehorchen musste, wollte man seinem Zorn entgehen.
Jesus dagegen stirbt nicht gegen seinen Willen, sein Sterben ist eine freie Tat, die die Juden zwar aus dem Zwang ihres Schuldgefühls begehen müssen, die sie merkwürdigerweise aber nicht erneut mit Schuld belädt. Denn die Juden können sich ja mit Recht darauf berufen, dass sie diesen Malm sterben ließen, um das Gesetz ihres Gottes zu wahren.
Mit dem Tod Jesu werden die Menschen in die Freiheit des Glaubens entlassen. Wer, wie die Juden, am Gesetz festhalten will, bleibt dem Gesetz verpflichtet und wird auch weiterhin unter der Botmäßigkeit Jahwes bleiben.
Die Wahrheit Jesu aber wird nun eine in den Tod hinein gelebte Wahrheit, die sich weder durch Todesfurcht noch durch den Tod zerstören lässt und jetzt von Menschen aufgenommen und gelebt werden kann. Das geschah all denen, die nun aus eigenem Erleben seine Auferstehung bezeugen können, ohne dass Angst ihr Zeugnis abwürgen kann.
Den Auferstehungsberichten kann man getrost ihren legendären Charakter bescheinigen. Hier haben sich Glaubenserfahrungen niedergeschlagen, die nur im Bild eines den Erfahrungen entsprechenden Berichtes den Menschen lebendig vermittelt werden konnten. Wesentlich bleibt doch allein, dass der Glaube an einen Gott jetzt Raum gewinnen kann, der es dem Menschen in der Begegnung mit Jesus ermöglicht, zu einem neuen Verständnis seines Lebens zu kommen.
Die Würde, die Jahwe dem Menschen vorenthielt, indem er wie ein orientalischer Despot gnädig oder auch ungnädig mit ihm verfahren konnte, wird dem Menschen nun als Geschenk angeboten. Die Gnade Gottes will es dem Menschen ermöglichen, aus dem Geist, aus dem der Mensch Jesus gelebt hat, das eigene Leben zu führen. Er beruht auf dem Vertrauen, dass Gott niemals gegen, auf jeden Fall für den Menschen da sein will. Gott bietet aber nur an, der Mensch bleibt frei. Nimmt er das Angebot an, wird er in einer Gemeinschaft mit diesem Jesus stehen, die nicht durch den Tod begrenzt werden kann.
Diese Gemeinschaft aber bleibt immer gefährdet. Denn wer so angenommen ist, muss auch bereit sein, den Mitmenschen in gleicher Weise anzunehmen, das heißt, dass er niemals gegen ihn stehen darf, sondern, soweit es ihm möglich ist, für ihn einzustehen hat.
Man wird wohl zugeben müssen, dass es den Christen insgesamt bisher nur sehr mäßig gelungen ist, aus diesem Geist heraus zu leben. Das ist zum Teil auf Gründe zurückzuführen, die im weiteren Verlauf dieser Abhandlung noch zur Sprache kommen werden. Zum Teil aber liegt es auch daran, dass der Mensch immer nur eine begrenzte Fähigkeit hat, den Eigenbedarf an Kraft zugunsten des anderen einzuschränken. Aber wer das von sich selber weiß und als Ungenügen anerkennt, wird die Weite eines Glaubens zu schätzen wissen, der ihm trotzdem eine Teilhabe an der Grade, so wie Jesus sie anbietet, ermöglicht.
Eine erhebliche Schwierigkeit, dem Evangelium Glauben schenken zu können, besteht wohl gerade für unsere Zeit darin, dass uns in diesen Berichten nur Glaubenszeugnisse angeboten werden, von denen man haute weiß, dass sie Zeugnisse aus zweiter oder gar dritter Hand sind. Es sind eben in unseren Augen Berichte, in denen sich ein mythisch ausgeformter Glaube niedergeschlagen hat, der heute nur noch einen geringen dokumentarischen Wert haben kann. Das achtenswerte Bemühen der neueren Theologie, an den geschichtlichen Kern der Jesusberichte heranzukommen, hat bisher doch nur magere Ergebnisse gezeitigt und dazu beigetragen, die Theologie immer mehr zu einer Geheimwissenschaft zu machen.
In einer solchen Verlegenheitssituation verdient es eine theologische Arbeit, vor dem Vergessen bewahrt zu werden. Gemeint ist die "Frühgeschichte des Evangeliums" von Emanuel Hirsch, die im Jahre 1940 in erster und im Jahre 1951 in zweiter und letzter Auflage erschien [19]. Verständlich, dass diese Arbeit in der Nachblütezeit der Barthschen Theologie nicht zum Tragen kam. Unverständlich aber bleibt, warum sie in den 50er und 60er Jahren in der Auseinandersetzung um den historischen Jesus keine Beachtung gefunden hat. Sie hätte den kritisch exegetischen Arbeiten der Bultmann-Schule von Wert sein und vielleicht verhindern können, dass die Bemühungen dieser beachtlichen Schule eine Affinität zum zwangsneurotischen Denken aufweist, in dem die wissenschaftliche Genauigkeit einen stark einengenden Charakter annehmen kann.
Hirsch ist es gelungen, mit einem genialen analytischen Scharfsinn im ältesten Evangelium nach Markus die ursprüngliche Fassung wieder freizulegen. Es ist die Arbeit eines Wissenschaftlers, dessen Arbeit den Verdacht nicht aufkommen lässt, dass sachgerechte theologische Arbeit Wunschvorstellungen geopfert wurde, um zu einem sensationellen Ergebnis zu kommen. Das Ergebnis allerdings ist eine Sensation.
In der ursprünglichen Fassung des Evangeliums, wie Hirsch sie erarbeitet hat; liegt uns ein Bericht vor, der nicht durch eine Gemeindetheologie der ersten Generationen nach Christus beeinflusst wird, sondern einen Augenzeugenbericht bietet, der, frei von sekundären Ausformungen, eine nüchterne, man könnte sagen karge Darstellung wiedergibt, wie sie der Augenzeuge Petrus in seiner Jüngerschaft erlebte.
Man wird mit Hirsch annehmen können, dass mit dieser Arbeit das verloren geglaubte Petrus-Evangelium uns wieder zugänglich gemacht wurde, das der ersten Gemeinde in Rom zur Verfügung stand. Vermutlich hat das auch zur Annahme geführt, Petrus habe in Rom gewirkt und sei dort hingerichtet worden.
Eine kurze Wiedergabe der Leidensgeschichte nach dem ursprünglichen Markustext kann dazu beitragen, die vorliegende Deutung des Passionsgeschehens zu bestätigen. Die Wiedergabe setzt ein bei Kapitel 14, 18: Zwei Tage vor dem Passahfest befindet sich Jesus mit seines Jüngern im Hause Simons, des Aussätzigen. Sie liegen zu Tisch und essen. Jesus nimmt das Brot, bricht es und gibt es den Jüngern mit den Worten: "das ist mein Leib", was nach Hirsch in der aramäischen Sprache gleichbedeutend ist mit: "das bin ich selbst" [20].
Anschließend reicht er ihnen den Becher mit dem Bemerken, dass er Wein erst wieder im Reiche Gottes trinken werde. Sie gehen hinaus an den Ölberg. Jesus betet, abgesetzt von den Jüngern, die Stunde möge, wenn es möglich ist, an ihm vorübergehen. Er ist einsam und bittet Petrus vergeblich, mit ihm zu wachen. Als er gefangen genommen wird, spricht er die letzten an Menschen gerichteten Worte: "Täglich bin ich bei euch gewesen im Heiligtum und habe gelehrt, und ihr habt mich nicht gegriffen; aber dies ist eure Stunde und die Gewalt der Finsternis" (Vers 49). Alle fliehen, Jesus aber wird vor den Hohen Rat geführt. Ein Zeugnis aus zweier Zeugen Mund findet sich nicht. Obwohl der Hohepriester ihn zum Reden bringen möchte, verharrt Jesus im Schweigen. Man ist wütend, dass bei dieser Prozesslage keine Verurteilung erfolgen kann, und misshandelt Jesus und verspottet ihn als einen falschen Propheten. Nach einer zweiten, wiederum ergebnislosen Verhandlung im Morgengrauen wird Jesus dem Pilatus überstellt, der ihn als einen gefährlichen Volksverführer zum Tode verurteilen soll. Schon vor der zweiten Verhandlung hat Petrus Jesus verleugnet.
Das Volk strömt herbei, um von seinem Privileg Gebrauch zu machen, am Passahfest einen Gefangenen der Staatsmacht loszubitten. Sie bitten um Jesus. Den Priestern aber gelingt es, das Volk umzustimmen und da schreien sie: "Kreuzige ihn!" Pilatus lässt Jesus geißeln und übergibt ihn den Soldaten zur Kreuzigung. Mit ihm werden zwei Räuber zur Rechten und zur Linken gekreuzigt. Er wird geschmäht: ,,He, du, der du den Tempel niederreißt und in drei Tagen wieder aufbaust, hilf dir nun selber und steige vom Kreuz herab!" Seine beiden Leidensgenossen schmähen ihn auch. Um die neunte Stunde schreit Jesus laut: "Eloi, eloi lama sabachtani.'' Kurz darauf stirbt er mit einem lauten Schrei [21].
Ein auffallender Unterschied zwischen dem neutestamentlichen Passionsbericht und dem von Hirsch erarbeiteten ursprünglichen Bericht nach Markus besteht darin, dass, nach der älteren Darstellung zu urteilen, Jesus nach seiner Verhaftung kein Wort mehr zu einem Menschen gesprochen hat. Die endgültige Fassung des Evangeliums setzt Akzente, die uns ein völlig anderes Bild der Leidensgeschichte vermitteln. In diesem Bericht steht das Bekenntnis Jesu zur Gottessohnschaft im Mittelpunkt der Verhandlungen vor dem Hohen Rat. Im weiteren Verlauf der Geschichte wird auf dieses Bekenntnis, das zur Verurteilung Jesu geführt hat, immer wieder hingewiesen. Die Bezeichnung "König der Juden" wird von Pilatus dreimal in einer Frage aufgenommen. Als "Judenkönig" wird er im Purpurmantel und mit der Dornenkrone von den Soldaten verspottet. Über dem Kreuz wird die Aufschrift befestigt: "Der König der Juden". Die führenden Juden verspotten den Gekreuzigten und bezeichnen ihn als den Christus, den König von Israel. Nach seinem Tod bekennt der römische Centurio: "Wahrhaftig, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!"
Man kann im Ernst eigentlich kaum darüber streiten, in welchem Bericht uns das Passionsgeschehen in seinem Ablauf wirklichkeitsgetreuer wiedergegeben wurde.
Auch nach dem neutestamentlichen Markusbericht hat sich Jesus bis in die letzte Zeit nicht dazu verstanden, sich als Gottes Sohn zu bekennen. Nach der Tempelreinigung stellen ihm die Ältesten die Frage nach der Vollmacht, die ihn zu solch einer Handlung berechtige. Da die Ältesten aber die Gegenfrage Jesu nach der Vollmacht des Johannes nicht beantworten wollen, verweigert er die Antwort: "So sage ich euch auch nicht, kraft welcher Vollmacht ich solche Dinge tue" (Markus 11, 33b).
Sollte sich Jesus vor dem Hohen Rat anders verhalten haben? Es ist nicht einzusehen, warum Jesus in der Verhandlung vor dem Hohen Rat seine Zurückhaltung hätte aufgeben sollen.
Das Bekenntnis: "Ich bin es (sc. Christus der Sohn des Hochgelobten), und ihr werdet sehen den Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft ( = Gottes) und kommen mit den Wolken des Himmels" entsprach genau den Vorstellungen, die der fromme Jude von der Ankunft des Messias hatte. Wenn aber die These stimmt, dass Jesus den Glauben seiner Väter hinter sich ließ, dann konnte er sich auch nicht mehr als ein Messias verstehen, der sein Kommen den religiösen Erwartungsvorstellungen seines Volkes entsprechend ankündigte. Das Schweigen Jesu vor dem Hohen Rat überzeugt und gibt ihm eine Hoheit, die das ein wenig theatralisch wirkende Messiasbekenntnis nicht geben kann. Das Glaubensverständnis der ersten Gemeinden legte es aber nahe, auch in dem irdischen Jesus den erhöhten Herrn zu sehen. Man hat daher, zumal in juden-christlichen Gemeinden, vermutlich mit gutem Gewissen ein dem Gemeindeglauben gemäßes Bekenntnis zum Sohne Gottes eintragen können, wobei dies Verfahren nicht auf die Passionsberichte beschränkt blieb. Man darf annehmen, dass die Gemeindetheologie der frühen Gemeinden die synoptischen Evangelien erheblich beeinflusst haben.
Es wäre zu überlegen, ob nicht die Urfassung des Evangeliums nach Markus ein besseres Verständnis der Person Jesu vermitteln kann.
Die Frage stellt sich, ob der irdische Jesus sich schon als Stifter eines neuen Glaubens verstehen konnte. Folgt man den neueren theologischen Forschungen, dann deutet nichts darauf hin, dass Jesus einen Würdenamen für sich in Anspruch nahm, der ihn als Sohn Gottes ausweisen sollte.
So auch Emanuel Hirsch, der sich zu diesem Problem folgendermaßen äußert: "Ich bin überzeugt, dass sich im Laufe eines Menschenalters in der deutschen Theologie die Einsicht durchsetzen wird, dass Jesus Messias im Sinne der alt-jüdischen Hoffnung nicht hat sein wollen, ja, dass Messias im Sinne dieser Hoffnung sein für ihn etwas Gottwidriges, Satanisches bedeutete" [22].
Es entspricht dem herkömmlichen christlichen Glauben, dass man bei ihm ein unverrückbares Vertrauen zu seinem Gott voraussetzt. War es ihm wirklich so gewiss, diesen Glauben im Gegensatz zum Jahwe-Glauben seines Volkes durchhalten zu können? Denn es wurde ihm nicht nur die Bereitschaft zum Sterben, sondern auch die Kraft, das Sterben in einer schrecklichen Einsamkeit durchzustehen, abverlangt. In Erwartung eines sicheren Todes hatte er dem Hass, dem Unverständnis und der Feigheit seinen Glauben entgegenzusetzen. Seine Bitte: "wenn es möglich wäre, so möchte die Stunde an ihm vorübergehen" (Markus 14, 36), lässt ahnen, wie groß die Angst vor dem Kommenden und wie quälend die Zweifel an seiner Kraft gewesen sein mögen. Würde es ihm möglich mein, die erkannte Wahrheit über Gott durch ein qualvolles Sterben hindurch zu bewahren? Besonders der Schrei am Ende seines Kampfes, der seinem Gott galt, zeugt von einer Anfechtung, die nicht weit von Verzweiflung entfernt ist: "Eloi, eloi, lama sabachtani?", das heißt auf deutsch: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Es liegt nahe, den letzten Worten Jesu zu entnehmen, dass er unter dem Druck des Leidens an seinem Glauben verzweifelte. Der Glaube an einen Gott, vor dem ein Mensch etwas gilt, bleibt ein Wunschtraum der Menschheit, der sich als Illusion erweist.
Rätselhaft bliebe nur, wie der Glaube an einen Mann, der so offensichtlich gescheitert war, überhaupt möglich wurde. Folgt man Hirsch in seiner Annahme, dass die erste Fassung des Evangeliums nach Markus Petrus zum Zeugen hatte, versteht man nicht recht, was Petrus eigentlich veranlassen konnte, die Geschichte einer enttäuschten Hoffnung der Öffentlichkeit preiszugeben. Ein Rechtfertigungsversuch wäre in dieser Situation verständlich, aber in dem Zeugnis des Petrus wird nichts beschönigt, das eigene Versagen tritt deutlich hervor.
Das Evangelium nach Lukas berichtet von einer Erscheinung des Auferstandenen vor Petrus als dem ersten Zeugen (Lukas 24, 34). Auch Paulus bezeugt, dass der Auferstandene zuerst von Petrus gesehen wurde, wobei zweifelhaft bleibt, was man sich darunter vorzustellen hat, dass Petrus den auferstandenen Jesus sah. In der Urfassung des Evangeliums nach Markus wird nur von den Frauen berichtet, die erschrocken vom Grabe fliehen, als sie das offene Grab erblicken.
Von einer Erscheinung Jesu vor Petrus wird im Evangelium nach Markus nichts berichtet.
Eine Begebenheit aber findet sich auch in der Urfassung des Markusberichtes, die für Petrus nach dem Tode Jesu große Bedeutung gewinnen musste. Petrus hat sich zu Jesus als dem Christus bekannt. Jesus beantwortet dieses Bekenntnis mit einem ersten Hinweise auf sein bevorstehendes schweres Leiden. Petrus ist sehr erschrocken und macht Jesus Vorwürfe wegen dieser seiner Meinung nach unsinnigen Voraussage. Jesus hat ihn daraufhin einen Satan gescholten, weil er ihn auf diese Weise verführen möchte, sich Gottes Willen zu entziehen (Markus 8, 29ff).
Wir dürfen doch wohl annehmen, dass Petrus diesen Äußerungen Jesu zunächst völlig verständnislos gegenüberstand und sich Mühe gab, diesen unangenehmen Zwischenfall zu verdrängen. Nach dem Tode Jesu aber wird gerade diese Szene dem Erinnerungsvermögen des Petrus wieder gegenwärtig gewesen sein, wobei die Erinnerung einer Erleuchtung gleichkommen konnte.
Entsprach sein Tod nicht der Voraussage? Er hatte das menschliche Schicksal in einer ungewöhnlich harten Weise erlitten, auch die Hilflosigkeit und Verlassenheit im Sterben blieb ihm nicht erspart. Erst jetzt konnte man eine Vorstellung von der Kraft bekommen, die ihn befähigte, diesen Weg willentlich zu gehen. Wenn er am Ende seines Lebens den Anfang des 22. Psalms aufnimmt: "Mein Gott?", dann war das nicht Ausdruck der Verzweiflung, sondern der Verbundenheit mit seinem Gott.
19 E. Hirsch Frühgeschichte des Evgl., Tübingen 1951.
22 Hirsch a.a.O., S. 89. Ferner: E. Käsemann, Versuche und Besinnungen, Göttingen 1964, S. 211.
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