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II.4. Möglichkeiten einer Scheidung zwischen Jesus und Jahwe im Neuen Testament

Der Versuch, die Person Jesu von der Psychoanalyse her zu deuten, ist fest mit der der Hypothese verbunden, dass der Jahwe-Glaube des Alten Testamentes einen erheblichen Einfluss auf das neutestamentliche Zeugnis von Jesus gewinnen konnte. Auf diese Weise konnten charakteristische Wesenszüge Jahwes auf die Person Jesu übertragen werden.

Ein Jesus aber, der den Menschen im Fall des Ungehorsams mit ewiger Verdammnis bedroht, begibt sich der Möglichkeit, die Liebe Gottes zu seinem Geschöpf glaubwürdig zu verkünden. Liebe ist ein Angebot, das nur in Freiheit aufgenommen werden kann. Hier ist der Mensch an psychische Gesetze gebunden, die auch ein Gottesglaube nicht außer Kraft setzen kann. Wer bereit und fähig ist, einen anderen so massiv zu bedrohen, verscherzt sich die Möglichkeit, geliebt zu werden.

Die Frage ist nun, ob eine Scheidung zwischen Jesus und Jahwe möglich sein wird, ohne dass die neutestamentlichen Berichte zugunsten einer Hypothese willkürlich abgeändert werden.

Das Markusevangelium, insbesondere in seiner Urfassung könnte zur Klärung dieser Frage beitragen. In der Urfassung fehlt eine Schilderung der Schreckenstage vor dem Jüngsten Gericht. Hirsch hat überzeugend nachgewiesen, dass die breitangelegte Vorausschau auf die Drangsalszeit der Letzten Tage, wie sie die uns vorliegende Markusfassung im 13. Kapitel bringt, ein recht dilettantisch vorgenommener Eintrag von zweiter Hand ist. Er enthält fast vollständig das Flugblatt eines christlichen Propheten, das nach Eusebius Kirchengeschichte III, 5, 3 bei Beginn des jüdischen Krieges (67-70 n. Chr.) Anlass zur Flucht der jerusalemischen Christengemeinde nach Pella im Ostjordanland geworden ist [23].

Wir können daher mit Sicherheit annehmen, dass eine derartige Ankündigung des jüngsten Gerichtes, die von den Evangelien nach Matthäus und Lukas auf- genommen wurde, nicht von Jesus stammt. Hier meldet sich in einer Weiterbildung der Evangelien die Theologie der ersten christlichen Gemeinden zu Wort, die noch in den eschatologischen Vorstellungen des Spätjudentums lebten. Wir haben daher berechtigten Anlass, angsterregenden Äußerungen Jesu a mit äußerster Skepsis zu begegnen.

In welchem Ausmaß Gemeindetheologie Worte, die von Jesus überliefert waren, auszugestalten vermochte, lässt sich im Gleichnis vom großen Abendmahl nach Lukas nachweisen.

Ein Mensch lädt zu einem Gastmahl ein, die Gäste verschmähen die Einladung. Der verhinderte Gastgeber lädt nun die ein, die kommen wollen, und nimmt sich verständlicherweise nun vor, die zuerst Geladenen nicht noch einmal zu Gaste zu bitten (Lukas 14, 16 ff).

Im Evangelium nach Matthäus wird dies Gleichnis in veränderter Form gebracht. Hier lädt ein König zur Hochzeit seines Sohnes ein. Die Geste misshandeln und töten die einladenden Boten. In einem Rachezug bringt der König die Mörder um und lässt ihre Stadt anzünden. Wiederum werden willige Gäste eingeladen, von denen der eine nicht das vorgeschriebene Festgewand trägt. Er wird gefesselt und in die äußerste Finsternis geworfen, wo Heulen und Zähneklappen ist (Matthäus 22, 1ff).

Während sich das Gleichnis nach Lukas mühelos auf Worte Jesu zurückführen lässt, begegnet uns in der Matthäusfassung des Gleichnisses der große Herr, der die Verächter seiner Macht einer grausamen Strafe zuführt. Hier begegnet uns Gott als der Jahwe des Alten Testamentes, unter dessen Zorngericht Jerusalem zerstört wurde.

Im besonderen Maße aber hat Paulus dem Geist Jahwes im christlichen Glauben Geltung verschafft.

Wenn Paulus die Gemeinde in Rom auffordert, den hungernden Feind zu sättigen, dann scheint er damit dem Gebot Jesu voll zu entsprechen (Römer 12, 20f).

Paulus lässt aber keinen Zweifel daran, warum man mit seinem Feind so verfahren soll, nämlich, "um glühende Kohlen auf sein Haupt auszuschütten", mit anderen Worten, um ihn zu beschämen. Es handelt sich in der Vorstellung des Paulus also nicht um einen die Hilfe eines Christen erbittenden Feind, der dann schon gar nicht mehr als Feind angesprochen werden könnte, sondern um einen Menschen, der in hilfloser Lage in beschämender Weise die eigene Schwäche und die Überlegenheit christlicher Liebe zu spüren bekommt. Die im Grunde lieblose Einstellung trotz christlichen Liebeserweises verrät sich in der vorhergehenden Weisung des Paulus, sich nicht am Feinde zu rächen, sondern die Rache dem göttlichen Zorn zu überlassen (Römer 12, 19).

So verbindet sich bei Paulus das christliche Liebesgebot in seltsamer Weise mit dem Rachegeist des alttestamentlichen Gottes.

Man kann wohl sagen, dass durch die Theologie des Paulus die Dämonie der jüdischen Vatergottheit gesteigert wurde. Er preist zwar auch die Liebe und Güte Gottes, aber bei ihm werden sie zu einer angsterregenden Laune. "Jakob habe ich geliebt, den Esau aber gehasst", heißt es in einer spätjüdischen Schrift des Alten Testamentes (Maleachi 1, 2-3). Nach dem Zeugnis dieser Schrift aber besteht kein Zweifel, dass sich dieser Hass nur in einer Bevorzugung Jakobs ausgewirkt hat. Für Paulus aber ist dieses Wort der Erweis für die absolute Willkür Gottes, der den Menschen von vornherein entweder in Barmherzigkeit erwählt oder zur Vernichtung unter seinem Zorn bestimmt (Römer 9, 13ff).

Er vergleicht das Handeln Gottes mit dem eines Töpfers, der nun einmal die Macht hat, aus dem gleichen Stoff kostbare Gefäße und auch solche minderen Wertes herzustellen (Römer 9, 19), um so das vollmächtige und verantwortungsfreie Handeln Gottes herauszustellen. Er übersieht aber dabei, dass gerade durch dieses Beispiel der furchtbare Charakter göttlicher Willkür offenbar wird. Denn während der Töpfer auch die Gefäße minderen Wertes einem sinnvollen Gebrauch zuführt, kann Gott den, diesen Gefäßen entsprechenden, Menschen ihre Minderwertigkeit als Schuld vorwerfen, um sie so im Zorn als Sünder, zu denen sie ja vorherbestimmt waren, zu vernichten.

Zu dieser Glaubensaussage über Gott war Paulus vermutlich nur imstande, weil er die eigene Erwählung für gewiss hielt. Er glaubte sich in der Barmherzigkeit Gottes geborgen, ohne etwas von dem eigentlichen Wesen der Güte verspürt zu haben.

Es scheint widersinnig zu mein, dass gerade Paulus es war, der den christlichen Glauben aus der Bindung an das mosaische Gesetz löste und so die Voraussetzung für eine heidenchristliche Kirche schuf. Der missionarische Vorstoß des Paulus, durch den die Völker des Mittelmeeres mit dem christlichen Glauben in Berührung kamen, hat zweifellos eine Verkümmerung der Urkirche in Jerusalem zu einer rein jüdischen Sekte verhindert.

Obwohl Paulus also in seiner Gottesvorstellung am Geiste Jahwes orientiert war, hat er gegen den erbitterten Widerstand der Judenchristen das Gesetz des Vatergottes außer Kraft zu setzen versucht. Das ist ein Widerspruch, der im weiteren Verlauf dieser Untersuchung nur durch eine Analyse seines Charakters verständlich gemacht werden kann.

Im besonderen Maße aber eignet sich das Evangelium des Johannes zum Beleg der Hypothese, dass judenchristliche Einflüsse erheblich auf die Gestaltung insbesondere der Evangelien nach Matthäus und Lukas eingewirkt haben, indem hier Wesenszuge Jahwes auf die Person Jesu übertragen wurden.

Das vierte Evangelium entstand unabhängig von den synoptischen Evangelien zu einer Zeit, als das judenchristliche Element der sich bildenden Kirche schon nach der Zerstörung Jerusalems zur Bedeutungslosigkeit abgesunken war. Es war in griechischer Sprache geschrieben und, wie im folgenden noch nachgewiesen wird, nicht frei von einem antijüdischen Akzent.

Von einem Zorn Gottes, der sich als eine feindselige Gesinnung in Strafandrohungen oder Strafen bei den gottlosen Menschen auswirkt, weiß der Verfasser des Johannesevangeliums nichts. Nur einmal ist in dieser Schrift von dem Zorn Gottes die Rede. Jesus weist darauf hin, dass der Glaube an ihn ewiges Leben bedeutet, und fährt dann fort: "Wer dem Sohn nicht gehorcht, wird das Leben nicht schauen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm" (Johannes 3, 36).

Hier fehlt das dynamische Element, welches dem göttlichen Zorneswirken nach Auffassung der anderen neutestamentlichen Schriften zu eigen ist. Unter den Zorn gerät der Mensch zwangsläufig, wenn er sich der Güte des Vaters entzieht. So bleibt auch der verlorene Sohn so lange unter dem Zorn des Vaters, bis er sich zur Umkehr entschließt. Gerade in diesem Gleichnis des Lukasevangeliums wird an dem Bilde des Vaters, der nach seinem Sohn ausschaut, deutlich, dass ein Leben unter dem Zorn Gottes eine vom Menschen selbstgewählte Seinsweise ist, die an der Güte des Vaters überhaupt nichts ändert.

Das Wort Jesu vom göttlichen Zorn, wie es nach dem Johannesevangelium formuliert ist, ließe sich ohne eine Sinnverschiebung umkehren und würde dann latten: "Wer auf den Sohn hört, bleibt nicht unter dem Zorn."

Diese Wesensschau Gotten, durch welche sich die johanneischen Schriften von den anderen Büchern des neutestamentlichen Kanons abheben, bestimmt auchdie Vorstellung vom Gerichtshandeln Gottes. Wie bei den Synoptikern nach Johannes dem Sohn das Gericht über die Menschen zugesprochen, da der Vater niemanden richtet (Johannes 5, 22). An zwei Stellen des Evangeliums äußert sich Jesus über die Art seines Richteramtes. Danach lehnt er es ab, den Menschen, der sein Wort zwar hört, aber nicht befolgt, zu richten, "denn ich bin nicht gekommen, die Welt zu richten, sondern um die Welt zu retten. Wer mich verwirft und meine Worte nicht annimmt, der hat schon seinen Richter. Denn das wird Wort, das ich geredet habe, eben das wird ihn am Jüngsten Tage richten" (Johannes 12, 47, vgl. auch Johannes 3, 17). Nach Auffassung des Johannesevangeliums ist es also unmöglich, das Richteramt Jesu irgendwie in Beziehung zu einem menschlich-richterlichen Handeln zu setzen. Das Wort von Jesus her kann allein als ein helfendes, richtungweisendes Wort verstanden werden, das dem Menschen unter Wahrung seiner Entscheidungsfreiheit angeboten wird.

Annahme oder Ablehnung des Wortes entscheiden dann allerdings über das Schicksal des Menschen, da ihm über das Wort ein Wissen vermittelt wird, dem er sich nicht verschließen kann, ohne den Sinn seiner menschlichen Existenz zu verfehlen. Das Wort Jesu hat Entscheidungscharakter, und sobald jemand das Wort hört, das heißt, von ihm getroffen wird, sich seinem Wahrheitscharakter nicht mehr entziehen kann, muss von ihm eine Entscheidung gefällt werden, die seinem Leben fernerhin das Gepräge geben ward, wobei Unentschiedenheit sich als eine Entscheidung gegen das Wort auswirken muss.

Wenn nun z. B. Jesus den Menschen anweist, sich seinem Nächsten zuzuwenden, und zwar in dem zweckfreien Willen, ihn das an Eigenem zu geben, was dem anderen Hilfe oder Bereicherung seines Lebens bedeuten kann, dann wachsen nicht nur dem Nehmenden, sondern auch dem Gebenden Kräfte zu, die sie beide zu einem menschlichen Leben ohne Gefahr der Selbstzerstörung befähigen.

Die Möglichkeit einer Entscheidung in diesem Sinne außerhalb des christlichen Glaubens mag dahingestellt bleiben - das Wort Jesu Johannes 12, 47f. schließt eine positive Entscheidung des Nichtchristen in keiner Weise aus -, eine willentliche Ablehnung oder Umgehung der Weisung von Jesus her aber hat zwangsläufig lebenszerstörende Wirkung zur Folge. Denn wenn sich der Mensch so von einer ihm offenstehenden geistigen Existenz abkehrt, bleibt er, ob er will oder nicht, auf sich selbst beschränkt und wird eine zunehmende Isolierung und geistige Verarmung in Kauf nehmen müssen. Eine Begegnung mit einem anderen Menschen bleibt ihm nunmehr versagt, da ihm nur noch der mitmenschliche Umgang in einem bestimmten, eingeschränkten Sinne offensteht, nämlich in dem Bestreben, den anderen, je nach Lage der Dinge höflich oder brutal, zweckgerichtet den eigenen Interessen der Existenzsicherung dienstbar zu machen.

Nur ein spezifisch menschliches Wissen bleibt ihm erhalten und wird sein vorwiegend animalisch bestimmtes Leben von dem einer höheren Tiergattung unterscheiden, nämlich das Wissen um die Unmöglichkeit, sein Leben auf diese Weise mit Erfolg abzusichern. Die Unwirklichkeit seiner Existenz aber wird ihn zum Selbstbetrug zwingen, so dass er nun gegen seiner Willen eifrig an der Aushöhlung des eigenen Wesens arbeitet.

Der Hinweis des johanneischen Christus auf eine Auferstehung zum Gericht macht die Verantwortung des Menschen für die Ausprägung seines Lebens deutlich. Der Tod zerschlägt nur, wie nach einem Glockenguss, den Mantel, der die eigentliche Form bisher verhüllte, die nun in ihrer Gestalt oder Missgestalt ans Licht treten muss. Die sichtbar gewordene Verformung oder Formlosigkeit des gelebten Lebens kann das Gericht sein, von dem wohl auch diejenigen betroffen werden, die durch ihr Verhalten an der Missgestaltung dieses Lebens ihren Teil beitrugen.

Daher ist auch eine lieblose Bloßstellung des einzelnen nicht denkbar, wie sie so häufig kennzeichnend für das menschliche Richten ist. Dem Geiste Jesu entspräche auch im Gericht der Wille zum Helfen, sofern dem Menschen überhaupt noch etwas Wesentliches verblieben ist, das einer Hilfe bedarf.

Es hat den Anschein, als ob sich der Verfasser des Johannesevangeliums bewusst gegen eine Judaisierung des christlichen Glaubens gewandt hat. Im achten Kapitel des Evangeliums hat er ein Gespräch Jesu mit gläubig gewordenen Juden, also Judenchristen, gestaltet (Johannes 8, 30f).

In diesem Gespräch wirft Jesus den gläubigen Juden vor, sie hätten die Absicht, ihn zu töten, weil sein Wort keinen Raum in ihren Herzen fände. Sein Wort, das er ihnen im Geist seines Vaters zu sagen habe, könnten oder wollten sie nicht verstehen, da sie selbst von einem Vater abstammten, der ein Mörder von Anfang an sei (Johannes 8, 37 und 44b). Als die Juden sich daraufhin als Kinder Abrahams bezeichnen, spricht er ihnen die Abrahamskindschaft ab und bezeichnet sie als Kinder des Teufels (Johannes 8, 39 und 44).

Dieses Gespräch wird man wohl nur aus der Sicht des Evangelisten recht verstehen, der die Judaisierung der christlichen Botschaft anscheinend für einen Versuch hielt, Jesus nochmals im Geist zu töten.

Auffallend ist nun, dass Jesus Abraham als einen wahrheitsliebenden Mann betont von dem Vater der Juden abhebt, indem er Jesus sagen lässt: "Wäret ihr Abrahams Kinder, so tätet ihr Abrahams Werke. Nun aber trachtet ihr mir nach dem Leben, der ich euch doch nur die Wahrheit gesagt habe. Das tat Abraham nicht. Ihr tut die Werke eures Vaters" (Johannes 8, 39b f).

Wenn Jesus in diesem Gespräch ausdrücklich die Werke Abrahams erwähnt, so liege die Vermutung nahe, dass er an eine bestimmte Tat Abrahams gedacht haben muss, durch die er sich für die Wahrheit und gegen die Lüge, und damit auch gegen den Vater der Lüge entschied. Es kann sich hier wohl nur um eine Anspielung auf die Geschichte von der Opferung Isaaks handeln, nach der Abraham zunächst bereit war, auf Befehl Jahwes einen Ritualmord an seinem Sohn zu vollziehen.

Die Parallele zur Geschichte, in der Moses von Jahwe während der Nacht überfallen wird, ist leicht zu ziehen. Moses entgeht dem Zorn Jahwes, indem Zipora durch eine symbolische Kastration die Ansprüche Jahwes befriedigt (2. Mose 4, 24). Abraham dagegen hört auf die Stimme eines Engels und verweigert das Opfer. In der Opferung des Widders aber gibt er seiner Entscheidung gegen Jahwe Ausdruck, indem er sich, wie es im Passahmahl geschieht, seiner bemächtigt und so eine gewisse Freiheit Jahwe gegenüber gewinnt.

Nach dieser Deutung also spricht der johanneische Jesus den Judenchristen die Abrahamskindschaft ab, da sie nicht seines Geistes sind. Abraham verweigerte das Opfer, weil er der Stimme der Wahrheit folgte, die Judenchristen aber werden zu Feinden des Christus Gottes, weil sie an den Geist des Gottes ihrer Väter gebunden bleiben.

Das Evangelium nach Johannes aber verblieb im Schatten einer christlichen Verkündigung, die der geistig-seelischen Struktur des Menschen in frühchristlicher Zeit entsprach.

Der Geist der jungen Kirche, der in den synoptischen Evangelien einen Niederschlag fand, wurde jedoch, wie bereits erwähnt, durch die Briefe des Paulus sehr stark beeinflusst. Es handelt sich hier um echte Briefe, die bereits eine bestimmte Situation innerhalb der von ihm gegründeten Gemeinden ansprachen. Als dann mit der Zerstörung Jerusalems die Urkirche als eine überwiegend judenchristliche Kirche ihr Ende fand, gewannen die Briefe des Paulus in ihrer theologischen Rechtfertigung des heidenchristlichen Elementes einen geschichtsbildenden Rang.

Darüber hinaus gaben die paulinischen Briefe der Kirche ein Christuszeugnis an die Hand, das sich eindrucksvoll mit den archaisch-jüdischen Elementen eines Glaubens an die furchterregende Gottheit verband. Diese Verbindung konnte dann als eine das logische Denken hinter sich lassende Aussage über göttliche Wesenheit gewertet werden und so den paulinischen Briefen den Charakter einer geheimnisvollen, unergründlichen Hoheit verleihen, die den Glauben an eine göttliche Inspiration des Verfassers begründen half.

Eine derartige Wertung paulinischer Glaubensaussage entsprach auch völlig dem Selbstbewusstsein des Paulus, der in einer mystischen Gemeinschaft mit dem erhöhten Herrn zu leben meinte und sich als das noch im Fleische lebende Wort Christi verstand.

Dieses Bild einer unantastbaren, jeder Kritik enthobenen Würde blieb auch für die evangelische Theologie bis in die jüngste Zeit hinein verbindlich.

Sofern man sich von der Theologie her mit den paulinischen Schriften befasst, wird das anscheinend selbstverständliche Bemühen erkennbar, die Lehrautorität des Apostels unbedingt zu wahren, da er ja schon zu Lebzeiten scheinbar dem profanen Bereich des Menschseins, das der Kritik noch offensteht, entwachsen war.

Dabei hat man offenbar bisher übersehen, dass Paulus die einzige biblische Gestalt ist, deren Charakterbild mit psychologischen Mitteln erhellt werden kann.

Die Verfasserpersönlichkeit der alt- und neutestamentlichen Schriften bleibt sonst völlig im Dunkeln. Die echten Briefe des Paulus aber können als das Selbstzeugnis eines Mannes gelten, das einen tiefen Einblick in die Persönlichkeitsstruktur dieses Mannes zulässt.

Eine Eigenart psychoanalytischer Arbeit besteht nun darin, dass sie psychische Krafts aufzeigt, die an der Lebensgestaltung des Menschen sehr wesentlich beteiligt waren, dem Bewusstsein aber meist fremd bleiben, da sie das Bild empfindlich stören, das der Mensch für sich und seine Umwelt als gültiges Erscheinungsbild aufgebaut hat.

Eine Charakteranalyse des Paulus muss daher zwangsläufig zur Auflösung seines allseits vertrauten Erscheinungsbildes führen und ein neues, sicher befremdliches Bild an seine Stelle setzen. Es kann einen gewissen Schock auslösen, da in dieser Gestalt Spannungsfelder seelischer Kr|fts sichtbar werden, die ihn sehr wahrscheinlich erst zu einer geschichtlichen Persönlichkeit werden ließen. Im Charakterbild des Paulus wird eine homosexuelle Komponente seines Wesens erkennbar werden. Es dürfte uns heute möglich sein, einen solchen Befund ohne moralische Bewertung als ein Schicksal aufzufassen, das Paulus mit zahlreichen Männern, die Bedeutsames geleistet haben, geteilt hat.

Selbstverständlich wird man das Wesen eines Menschen von der Psychologie her nicht vollständig erfassen können, und es wird Aufgabe einer sachlichen Kritik sein, Fehlansätze in der psychologischen Methode aufzuzeigen.

Die Berechtigung aber, die seelische Struktur einer biblischen Gestalt auf Grund ihres Selbstzeugnisses zu erhellen darf nicht in Frage gestellt werden. Nur ein wirksames Tabu könnte der Psychologie noch den Weg verlegen. Aber auch auf religiösem Gebiet sind Tabus heute kraftlos geworden, und man wird damit rechnen müssen, dass der christliche Glaube dem Bewusstsein des heute lebenden Menschen nicht mehr als Wahrheit gelten kann, wenn ihm die Kraft fehlen sollte, wissenschaftliche Erkenntnisse über den Menschen in sich aufzunehmen und kritisch zu verarbeiten.

23 E. Hirsch, a.a.0., S. 139.


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Last update: 31 Mai 2009 | Impressum—Imprint