oturn home > Gespaltener Christlicher Glaube > IV. Martin Luther > 4 Die Resignation zur Hölle

Weiter zu Teil IV.5 Die 95 Thesen

Zurück zu Teil IV.3 Der Groll des Vaters

Zum Index von Teil IV. Martin Luther

Zum Hauptindex


IV.4 Die Resignation zur Hölle

Der Tag der Primiz mit seinem verhängnisvollen Verlauf hinterließ bei Martin Luther bleibende Spuren.

Wenn Luther im Satan nicht nur den mächtigen Zerstörer, sondern auch den heimtückischen Fallensteller sah, der seine Opfer listigerweise gerade dann fängt, wenn sie meinen, jeder Gefahr entronnen zu sein, dann kann schon allein das Erleben dieses Tages eine derartige Satanologie vollauf rechtfertigen. Luther konnte als Kind seiner Zeit nicht wissen, dass der Vater-Sohn-Konflikt in einer seltsamen, aber durchschaubaren Konstellation den Ablauf der Ereignisse dieses Tages entscheidend beeinflusst hatte. Zu seiner Zeit schob man eben Ereignisse und Erfahrungen, die sich einer vernünftigen Erklärung entzogen, auf die dämonische Ebene ab, um sie auf diese Weise bewältigen zu können. Luther hatte angesichts der Lage, in die er mit dem Tag seiner Weihe zum Priester hineingeraten war, allen Grund, an die Tücke des Satans zu glauben.

Man ist doch wohl zu der Annahme berechtigt, dass er mit der Erhebung in den Priesterstand das Ende seiner schweren Anfechtungen erwarten durfte. Denn nach der Glaubensüberzeugung seiner Kirche war er nun der Vermittler göttlicher Gnade, der von Gott niemals verworfen werden konnte, wenn er sein Amt gewissenhaft verwaltete. Es ist sehr wohl möglich, dass Luther vor dem Vollzug der Weihe in der abergläubischen Furcht gelebt hat, Gott könne ihn, den Sünder, noch im letzten Augenblick durch ein Zeichen von alttestamentlicher Wucht zurückstoßen oder vernichten. Vielleicht ließe sich so auch der panische Schrecken verstehen, der ihn am Tag der Primiz bei der Verrichtung des Meßopfers überfiel, als er mit den Worten "aeterno, vivo, vero deo" (dem ewigen, lebendigen, wahren Gott) die heilige Wandlung vollziehen sollte. In diesem Augenblick wollte er, wie es in einer Tischrede überliefert wird, vom Altar laufen und konnte nur mit Mühe vom Prior zurückgehalten werden [63]. Es liegt nahe, dass Luther in einer kaum zu ertragenden Spannung den Moment der Entscheidung gekommen sah. Denn wenn Gott ihn verworfen hatte, konnte er es ja unmöglich zulassen, dass er das heilige Opfer Christi vollzog.

Aber Gott hatte es zugelassen, und nun war ihm die priesterliche Würde unverlierbar zugelegt worden. Keine Macht konnte sie ihm nehmen, und er selbst würde sie niemals wieder ablegen können.

Und jetzt erfolgt der Sturz aus der sicheren Burg göttlicher Macht und Gnade in ein ebenso sicheres Gefängnis höllischer Verzweiflung. Nach zwei kurzen, schneidenden Sätzen des Vaters weiß er, dass er einer Versuchung des Teufels erlag. Trotz gegen den Vater, Ungehorsam gegen das vierte Gebot hatte bis zum Tage der Weihe seinen Weg bestimmt. Wie ein Totschläger auf seine Tat, so wurde er als Priester auf seinen Ungehorsam festgelegt. Während aber ein gemeiner Mörder seine Tat bereuen konnte und so Anspruch auf Vergebung hatte, blieb ihm nun der Weg zur Gnade versperrt. Denn je mehr er sich mühen würde, als ein Büßender seinem priesterlichen Amt in heiliger Vollkommenheit zu leben, um so fester musste der Grund werden, den ihn der Teufel hatte legen lassen, als er sich zum mönchischen Leben entschloss.

So war nun seine Frömmigkeit unter ein absolut negatives Vorzeichen geraten, und jeder Versuch, sich geistliche Verdienste zu erwerben, musste auf eine Beleidigung des lebendigen Gottes hinauslaufen. In dieser Situation konnte es für Luther eigentlich keinen Zweifel geben, dass er als ein Verworfener zur Verdammnis bestimmt sein müsse.

Es ist schon eine erstaunliche Tatsache, dass er unter der ständigen Anfechtung absoluter Verzweiflung über ein Jahrzehnt das Amt eines Priesters und theologischen Lehrers gewissenhaft versehen hat. Er stand im Dienste eines Herrn, der ihn schon verworfen hatte, er lehrte, man könne die Gnade Gottes erringen, er selbst aber hatte keine Gnade mehr zu erwarten.

Wie nüchtern er sich mit seiner Lage auseinandersetzte, und dabei verständlicherweise versuchte, ihr eine positive Seite abzugewinnen, zeigt die Lehre von den drei Graden der Auserwählung, wie er sie in der Vorlesung zum Römerbrief im Jahre 1515 vorgetragen hat:

"Die einen sind zufrieden mit Gottes Willen, rechnen aber darauf, sie seien auserwählt, und wollen nicht verdammt werden.

Die andern, Höherstehenden, sind resigniert und zufrieden mit Gottes Willen oder wünschen wenigstens, es zu sein, wenn Gott sie auch nicht retten, sondern unter die Verworfenen setzen wollte.

Der dritte, d. h. der letzte und höchste Grad ist der, dass man auch in der Tat sich gemäß dem Willen Gottes zur Hölle resigniert, wie es vielleicht bei vielen in der Todesstunde der Fall ist. Auf diese Weise wird man ganz vollkommen vom Eigenwillen und der Fleischesklugheit gereinigt." [64]

Am Beispiel der vollkommenen Heiligen versucht er zu zeigen, warum der Christ nur in der Resignation zur Hölle den höchsten Grad der Erwählung erreichen kann:

"...denn aus einem übermäßigen Drang zu Gott heraus trauen sie sich alles Mögliche zu, sogar die Hölle zu ertragen. Doch wegen dieser Willigkeit entgehen sie alsbald dieser Strafe; denn es ist nicht zu fürchten, dass sie verdammt werden, weil sie willig und gern um Gottes Willen sich die Verdammnis gefallen lassen. Verdammt werden vielmehr die, welche der Verdammnis entrinnen wollen. " [65]

Diese Gedanken stellen ohne Frage einen theologischen Konstruktionsversuch dar, mit dem er der Verzweiflung einen positiven Wert zu geben versucht. In ihm selbst aber konnten derartige Versuche keine befreiende Wirkung auslösen, da er sich aus dem Wissen um den eigentlichen Grund seiner Frömmigkeit einen echten "Drang zu Gott" gerade absprechen musste. Im Grunde seines Herzens musste er sich zu denen rechnen, die der Verdammnis entrinnen möchten und das Gegenteil erreichen.

So lässt sich auch bei der Römerbriefvorlesung feststellen, wie unter der Decke einer anspruchsvollen professoralen Theologie die Angst vor der Verwerfung im Blick auf sein eigenes Schicksal lebendig geblieben ist. Bei der Auslegung von Römer I, 29 ff. versieht er die im Lasterkatalog aufgezählten Sünden mit einem kurzen Kommentar. Am Anfang von Vers 30 aber bricht er ganz plötzlich ab und geht zur Auslegung des zweiten Kapitels über. Am Ende des 30. Verses wird als Sünde des Gottlosen der Ungehorsam gegen die Eltern erwähnt. Erst 1521 in seinem Brief an den Vater wird er dann zugeben können, wie sehr ihm dieses Wort zugesetzt hat, "welches die Mönche und Pfaffen fein trifft, sonderlich, die unter dem Schein der Frömmigkeit und im Namen des göttlichen Dienstes sich aus der Eltern Gehorsam ziehen." [66]

Auch im 9. Kapitel des Römerbriefes unterbricht er seine Erläuterungen, bevor er sich anschickt, die Ansichten des Paulus über das willkürliche Gnaden- und Verstockungshandeln Gottes zu er klären [67].

Man spürt förmlich, wie diese Worte ihn brennen, und Ängste der Verzweif1ung ihn überfallen, wenn er seine Hörer mahnt:

"Niemand stürze sich in diese Grübeleien hinein, dessen Geist noch nicht gereinigt ist, damit er nicht in den Abgrund des Grausens und der Verzweiflung falle, vielmehr reinige er zuvor die Augen seines Herzens mit der Betrachtung der Wunden Jesu Christi. Denn auch ich würde über diese Fragen nicht lesen, wenn mich nicht die Ordnung der Vorlesung und die Pflicht dazu nötigte" [68].

Zunächst überspringt er die angsterregenden Verse und versucht, sich die für den Vortrag notwendige Distanz zum vorliegenden Text zu verschaffen, indem er den eigenen Anfechtungen im Blick auf die Verstockung den Stachel nimmt.

In Auslegung von Römer 9, 20 ("Wer bist du denn, dass du es wagst, gegen Gott Widerspruch zu erheben?") glaubt er sagen zu können, dass einer auch dann nicht zugrunde gehen würde, wenn er unter dem übermächtigen Druck der Anfechtung lästerte. "Denn unser Gott ist nicht ein Gott der Ungeduld und Grausamkeit, auch nicht den Gottlosen gegenüber. Das sage ich denen zum Trost, die ständig von gotteslästerlichen Gedanken gequält werden und sich allzu sehr ängstigen. Obgleich solche Gotteslästerungen, die gewaltsam vom Teufel Menschen wider ihren Willen abgepreßt werden, bisweilen willkommener klingen in Gottes Ohr, als selbst das Halleluja oder sonst irgendein Jubellied. Denn je grausiger und scheußlicher eine Gotteslästerung ist, um so willkommener ist sie Gott, wenn nur das Herz fühlt, dass es sie gar nicht will, weil es sie nicht aus dem Herzen hervorgeholt hat und nicht auswählt. Das ist das Zeichen dafür, dass es sie nicht wirklich gewollt hat und unschuldig daran ist, wenn es in zitternder Angst schwebt und darüber erschrocken ist, dass es sie begangen hat. Denn ein offenkundiges Zeichen für ein gutes Herz ist dieser Schrecken vor dem Bösen. Deshalb ist ein Heilmittel dafür, dass man sich um solche Gedanken nicht kümmert."[69]

Diese Ausführungen im Verlauf der Römerbriefvorlesung sprengen den Rahmen einer akademischen Exegese, wie sie damals auf den Hochschulen üblich war. Sie zeigen uns Luther in der vielleicht schwersten Phase seines Kampfes, in der er einem Zwang zur Lästerung Gottes zu verfallen drohte. Verdrängte Hassgefühle gegen einen Gott, der ihm die Gnade versagt, brechen immer wieder durch und drohen sein Bewusstsein zu überschwemmen. Wie wirkungslos im Grunde die Versuche bleiben mussten, die Lästerungen in ein Halleluja umzufälschen, zeigt sein Hinweis auf das "Heilmittel" am Ende des letzten Zitates. Religiöse Zwänge, wie sie Luther in seiner Römerbriefvorlesung erwähnt hat, enden in der Regel bei ihrer ständigen Tendenz zur Verschärfung des Zwanges in einer Psychose.

Man darf wohl zu Recht annehmen, dass Luther im Jahre 1516, zur Zeit seiner Vorlesung über den zweiten Teil des Römerbriefes, am. Rande einer Psychose lebte. Zu dieser Zeit aber hatte er die Grundzüge seiner reformatorischen Theologie schon klar umrissen, und es fällt auf, dass die Ängste trotzdem noch einen so gefährlichen Charakter annehmen können. Schon im Jahre 1515 sprach er in der Erklärung von Römer 3, 24 von der Gewissheit, dass der Mensch im Glauben an Christus die Erlösung als ein freies Geschenk der Gnade empfangen dürfe.

Die Gnadenauffassung, die Paulus im Zusammenhang mit seiner Erlösungslehre entwickelte, musste für den katholischen Luther eigentlich von befreiender Wirkung sein. Denn Paulus lässt keinen Zweifel daran, dass dem Menschen, unabhängig von seiner frommen Gesinnung und Leistung die Gnade angeboten wird. Hier liegt für Paulus überhaupt erst die Voraussetzung, der göttlichen Gnade teilhaftig werden zu können, da der Mensch, ob Jude oder Grieche, unter die Herrschaft der Sünde wie ein Sklave verkauft ist. "Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer (Römer 3, 9-10)."

So hätte sich Luther trotz seines Schuldbewusstseins der Gnade trösten können. In seinem Römerbriefkommentar finden sich tatsächlich auch in der Schlussbetrachtung zum dritten Kapitel Worte der Zuversicht, die auf eine Überwindung der Ängste hindeuten könnten:

"Wir müssen in der Sünde bleiben und in der Hoffnung auf Gottes Erbarmen um Erlösung von ihnen seufzen ... Allmählich müssen wir geheilt werden und mancherlei Schwächen noch eine Zeitlang ertragen. Es ist genug, dass die Sünde uns missfällt, auch wenn sie noch nicht völlig das Feld räumen will. Denn Christus trägt alle Sünden, wenn sie uns nur missfallen. Nun sind sie nicht mehr unsre Sünden, sondern die seinen, und hinwiederum ist seine Gerechtigkeit die unsere." [70]

Die Heilung aber blieb offensichtlich aus. Ein Jahr später zeigt sich, wie wenig ihm eine Überwindung seiner schweren Ängste gelungen ist. Nur mit Anstrengung und Widerstreben kann er über die paulinische Lehre von der Vorsehung im 9. Kapitel des Römerbriefes zu seinen Studenten sprechen.

Wiederum ein Jahr später aber scheint dieser von Skrupeln geplagte Mönch wie ausgewechselt zu sein. Er wagt es, im Namen Christi gegen die mächtige Kirche aufzutreten, stellt ihre Autorität in Frage und zerreißt in einem häufig maßlosen Zorn seiner Streitschriften sämtliche Bindungen, die ihn als Mönch und Priester durch unlösbare Gelübde dieser Kirche verbanden. Mit 95 Thesen, aufgestellt als Grundlage für eine akademische Disputation, trat diese Verwand1ung plötzlich in Erscheinung.

63 WA/T 2, 133 (31).

64 J. Ficker, Luthers Vorlesung über den Römerbrief, 2. Teil, S. 215, 1. Bd., 1908.

65 M. Luther, Ausgewählte Werke, hrsg. von H. H. Borcherdt und G. Merz, Ergänzungsreihe, 2. Bd., Römer-Brief-Vorlesung, München 1937, S. 349.

66 EA 53, 91.

67 Römer 9, 17-18.

68 M. Luther, Ausgew. W., a. a. 0., S. 360.

69 M. Luther, Ausgew. W., a. a. 0., S. 361.

70 M. Luther, Ausgew. W., a. a. 0., 5.164.


Weiter zu Teil IV.5 Die 95 Thesen

Zurück zu Teil IV.3 Der Groll des Vaters

Zum Index von Teil IV. Martin Luther

Zum Hauptindex

Last update: 05 Juni 2009 | Impressum—Imprint