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IV.5 Die 95 Thesen

Man wird wohl kaum daran zweifeln können, dass Luther mit den 95 Thesen vom 31. Oktober 1517 aus berechtigter Sorge heraus gegen den ärgerlichen Missbrauch kirchlichen Ablasswesens Einspruch erheben wollte. Schon im Jahre davor wandte er sich zweimal in einer Predigt gegen die Entartung des Ablasshandels. Seine Empörung ist schon verständlich, wenn da an den Grenzen des kursächsischen Gebietes das marktschreierische Gebaren eines Tetzel bis nach Wittenberg hin ausstrahlt und seine Wittenberger Beichtkinder dazu verführte, auf den Ablasszettel ihr Vertrauen zu setzen, anstatt in Gottesfurcht ihren Sinn zu ändern und die Vergebung der Sünden an zuständiger Stelle zu erbitten. Ebenso wird man es Luther glauben müssen, dass er von der Wirkung, die seine Thesen auslöste, selber überrascht worden ist. Immerhin waren sie als Grundlage für eine akademische Disputation in lateinischer Sprache verfasst. Wie sollte er es voraussehen können, dass seine Streitsätze wenige Wochen später in deutscher Sprache eine Verbreitung fanden, wie sie eigentlich nur mit Mitteln der modernen Publizistik möglich erscheint?

Es ist selbstverständlich unmöglich, in Luther einen Agitator modernen Stils sehen zu wollen, der die Instinkte der Massen anzusprechen und in seinem Sinne zu beeinflussen weiß. Und doch könnte diese Schrift Luthers Musterbeispiel für eine Agitationsschrift mit doppeltem Boden sein, in der im Namen und zum Schutze einer nicht zu umgehenden Autorität eben diese Autorität in raffinierter Weise angegriffen und zersetzt wird. Es ist geradezu unheimlich, zu sehen, wie das eigentliche Thema, das diesen Thesen zugrunde lag, schon bald auf der Strecke bleibt. Wenn es in These 43 heißt: "Man lehre die Christen, dass, wer dem Armen gibt oder dem Bedürftigen leiht, besser tut, als wenn er Ablass lösen wollte", dann läuft das auf eine grundsätzliche Ablehnung eines jeglichen Ablasses hinaus, und sämtliche vorhergehenden und noch folgenden Überlegungen über eine vertretbare Ablasspraxis werden damit entwertet [71].

Man glaubt, Zeuge eines langsam einsetzenden Erdbebens zu sein, das am Ende in einen Vulkanausbruch mündet, wenn sich im Verlauf der Thesen mit zunehmender Deutlichkeit eine völlig andere Frage in den Vordergrund schiebt, die so gefährlich ist, dass eine Disputation über sie innerhalb der katholischen Kirche damals gar nicht möglich sein konnte.

Es ist die Frage nach dem Amt und den Machtbefugnissen des Papstes, die eine unerhörte Beantwortung findet.

So erfuhr der Leser, je nach seiner Einstellung, mit Befremden oder schadenfroher Genugtuung, wie ein Mann der Kirche es wagt, die unantastbare Heiligkeit des Stuhles Petri anzutasten, indem Luther mit kurzen Worten die Autorität des Papstes beschränkt.

"Der Papst", so schreibt dieser Professor aus Wittenberg, "will und kann keine anderen Sündenstrafen erlassen, als die, welche er nach seinem oder nach der kirchlichen Satzungen Befinden aufgelegt hat (5. These). Der Papst kann keine Sündenschuld erlassen, als indem er erklärt und bestätigt, dass sie von Gott erlassen sei (6. These)."

Wo bleibt da die in die göttlichen Machtbezirke hineinreichende Heiligkeit des päpstlichen Namens?

Der Mann aus Wittenberg lässt keinen Zweifel daran, dass es eine derartige Sonderstellung in der Hierarchie der Kirche überhaupt nicht gibt:

"Dieselbe Gewalt", so behauptet er in der 25. These, "die der Papst über das Fegefeuer insgeheim hat, hat jeder Bischof und Seelsorger für seinen Sprengel oder seine Pfarre insonderheit."

In der folgenden These erfährt dann der Leser, dass sich die Schlüsselgewalt des Papstes gar nicht auf das Fegefeuer erstreckt, sondern dass er genau wie jeder andere Priester darauf angewiesen ist, in Fürbitte den Seelen einen Straferlass zu erwirken. Nichts aber wird darüber gesagt, welche Bedeutung man dem Päpstlichen Schlüssel billigerweise zumessen darf.

Ungefähr in der Mitte der Thesenfolge wird dann auf einmal ein Ton angeschlagen, den der aufmerksame Leser sicher nicht überhört hat. Da heißt es in der 48. These: "Man lehre die Christen, dass der Papst bei der Gewährung von Ablass mehr bedarf, und daher auch mehr Verlangen trägt nach ihrem andächtigen Gebet, als nach dem Gelde, das sie herbeibringen."

49. These: "Man lehre die Christen, dass des Papstes Ablass nützlich ist, wenn man kein Vertrauen auf ihn setzt, aber höchst schädlich wird, wenn man um seinetwillen die Furcht Gottes verliert."

51. These: "Man lehre die Christen, dass der Papst, wie es denn ihm gebührt, gern bereit wäre, selbst wenn er dazu St. Peters Dom verkaufen müsste, von seinem eigenen Geld denen mitzuteilen, deren vielen jetzt etliche Ablassprediger ihr Geld ablocken."

Es gab wohl kaum einen Menschen in der damaligen Zeit, der nicht gemerkt hätte, wie diese Thesen verstanden werden sollten., In Deutschland litt man damals unter dem Aufkommen der Geldwirtschaft, die das alte, vornehmlich an den Grundbesitz gebundene Wirtschaftssystem zusehends entwertete, Wer Geld hatte, besaß Macht. Der Ritter, Bauer und der gemeine Mann fanden in der Regel keinen Anschluss an das neue System, wurden schlecht bezahlt, soweit sie produzierten, und verarmten.

Die römische Kurie aber war schon lange zu einer Finanzmacht geworden, und es war ein offenes Geheimnis, dass Rom in Geldsachen nicht mit sich spassen ließ. Wenn Albrecht von Mainz im Auftrage der Kurie das Ablassgeschäft betreiben ließ, dann vor allem, um seine römischen Schulden zu bezahlen, da er seine beiden Erzbistümer Magdeburg und Mainz um schweres Geld in Rom hatte kaufen müssen.

Wer nur ein wenig zwischen den Zeilen zu lesen verstand, der wusste, was der Verfasser der Thesen in Wirklichkeit von der Frömmigkeit und der mildtätigen Gesinnung des Papstes hielt. Der Hohn war allzu deutlich spürbar, mit dem der Ablass als ein simples Geldgeschäft abgewertet wurde, das die Seele eines Christen in Gefahr bringen konnte, falls er auf diesen Schwindel hereinfiel. Und nun, wo sich die Verhöhnung des Papstes in einer so notdürftigen Verhüllung vorgewagt hat, gelingt es Luther nicht mehr, seinem vernichtenden Spott Zügel anzulegen. Nach einem wenig überzeugenden Versuch, die Wahrheit des apostolischen Ablasses zu verteidigen, erreicht die Verspottung des Papstes ihren Höhepunkt, indem er "die böse Nachrede" und "die unzweifelhaft scharfen Einwendungen der Laien" gegen den Papst zu Worte kommen lässt. Jeder Satz ist gleichsam eine Ohrfeige für das Haupt der römischen Kirche, und kein Leser konnte nach den vorhergehenden scharfen Sätzen darüber im Zweifel sein, auf wessen Seite der Verfasser der Thesen in Wirklichkeit stand.

These 82: "Warum befreit denn der Papst nicht aus dem Fegefeuer rein aus dem Drang heiliger Liebe und bewogen von der höchsten Not der Seelen.., das wäre doch billig Ursache genug für ihn! ... wenn er doch unzählige Seelen erlöst um elenden Geldes wegen, zum Bau der Peterskirche gegeben, also um einer so leicht wiegenden Ursache willen?"

These 84: Desgleichen: "Was ist das für eine neue Frömmigkeit Gottes und des Papstes, dass sie dem Gottlosen und Feinde um Geld gestatten, eine fromme und von Gott geliebte Seele zu erlösen, und doch dieselbe nicht um der großen Not derselben frommen und geliebten Seele willen aus Liebe ohne Entgelt erlösen?" These 86: Desgleichen: "Warum erbaut der Papst, dessen Vermögen heutigen Tages fürstlicher ist, als das der reichsten Geldfürsten, nicht lieber von seinen eigenen Geldern, als von denen armer Gläubigen, wenigstens diese eine St.Peters-Kirche?"

These 88: Desgleichen: "Was könnte der Kirche größeres Gut widerfahren, als wenn der Papst, wie er's nur einmal tut, so täglich hundertmal jedem Gläubigen solchen Erlass und Anteil zuwenden wollte?"

These 89: "Da es doch dem Papste mehr um der Seelen Heil beim Ablass, als um das Geld zu tun ist, warum hat er denn jetzt die früher bewilligten Briefe und Ablässe außer Kraft gesetzt, da diese doch eben so wirksam sind?"

Diese Thesen weisen schon auf die Stoßrichtung und polemische Schärfe des kommenden Kampfes hin, und es hat dann auch nicht mehr lange gedauert, bis Luther den Papst offen als Antichrist bezeichnete. Mit dem Angriff auf die Autorität des Papstes aber war die Struktur der römischen Kirche grundsätzlich in Frage gestellt, und wenn es nicht gelang, diesen Angriff im Keime zu ersticken, musste der Bruch innerhalb der Kirche unvermeidlich werden, es sei denn, die Kirche hätte ihre Fundamente widerstandslos in Frage stellen lassen und damit sich selbst aufgegeben.

Die geistige Haltung aber, die schon in den Thesen ihren Niederschlag fand und in den späteren Kampfschriften unverdeckt in Erscheinung trat, hat zu allen Zeiten den Gegnern Gelegenheit gegeben, die Gestalt Martin Luthers charakterlich abzuwerten.

Hier war, so glaubt man sagen zu können, ein Mann am Werke, der aus einer unglücklichen Charakterveranlagung heraus von destruktiven Neigungen beherrscht war und in giftiger Polemik mit demagogischem Geschick Zerstörung beabsichtigte und zum Unglück der Kirche auch erreichte. Aufbauende Kräfte aber, auf die eine Reformation nicht verzichten kann, hat dieser Mann bei sich selbst und seinen Anhängern nur in geringem Maße freisetzen können, so dass sein Kampf gegen die römische Kirche nicht auf eine Reformation, sondern auf eine Deformation hinauslaufen musste.

Eine genauere Kenntnis der lutherischen Polemik, insbesondere der späteren Jahre, und die Fragwürdigkeit der Bauelemente einer lutherischen Kirche, die in ihrer äußeren Gestalt und Verfassung auf Notlösungen angewiesen blieb, vom Erbe lutherischen Geistes zehrte, niemals aber eigenständige geistige Kraft entwickelte, geben den gegnerischen Stimmen ein erhebliches Gewicht.

Man wird sich aber das rechte Verständnis der folgenschweren Ereignisse dieser Jahre verbauen, wenn man nicht versucht, das Verhalten Martin Luthers von seiner religiösen Entwicklung her zu verstehen, und zwar vornehmlich im Blick auf die Bindungen, in denen er als Kind seiner Zeit zu leben gezwungen war.

So wäre es z. B. völlig abwegig, die demagogischen Talente, über die er zweifellos in reichem Maße verfügt, an den demagogischen Talenten unserer Tage zu messen und dementsprechend zu bewerten.

Wenn Luther gegen die Macht der römischen Kirche auftrat, dann konnte er nicht als ein Außenseiter kämpfen, ohne innere Bindung an die ihm verhasste Macht. Im Ggenteil, er wurzelte tief in der katholischen Frömmigkeit, die ihm infolge seines persönlichen Schicksals zur Bedrohung seiner Existenz geworden war. Daher sah er sich auch gezwungen, alle Leidenschaften seiner streitbaren Natur aufzurufen und zum Einsatz zu bringen, um die Fessel religiöser Gebundenheit an den katholischen Glauben abstreifen zu können.

Die gehässige Beschimpfung des Papstes unter der Maske scheinbarer Besorgnis um das Ansehen des heiligen Stuhles kann als ein Durchbruch dieser Leidenschaften verstanden werden, die akademische Thesen urplötzlich in eine Kampfansage verwandelten. Sollte die Verhöhnung des Papstes nicht vielleicht ein Ventil für den Lästerungszwang, unter dem er zu dieser Zeit litt, gewesen sein?

Ein klares Bild der Zusammenhänge aber kann sich nur ergeben, wenn es gelingt, die Struktur der römischen Kirche durchsichtig zu machen.

Nur so lässt sich aufzeigen, wie aus der Konfliktsituation eines Mannes im Zusammenwirken mit politischen und geistigen Strömungen seiner Zeit eine Revolution hervorgehen konnte, die den folgenden Jahrhunderten das Gepräge gab.

71 Luthers Werke, hrsg. von Buchwald-Kawreau, Braunschweig 1889, 1. Bd., 5. 100.


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Last update: 05 Juni 2009 | Impressum—Imprint